Finh Rattner
02.11.2011
Momper
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“Fangen wir von vorn an.”
Finh blickte den Mann mit dem einen Auge an, das er noch zur Verfügung hatte und versuchte sich wieder an einem abfälligen Grinsen, auch wenn er sich sicher war, daß sein geschwollenes Gesicht und die aufgesprungenen Lippen eher jämmerlich als irgendwie sonst wirkten.
Geschlagen hatten Brenneghans Leute ihn nur am ersten Tag. Dann hatte der Hauptmann offenbar eine andere Anweisung gegeben. Aber behandelt hatten sie weder die Schwellungen im Gesicht, noch die gebrochenen Finger der linken Hand, die ihm einer der Eichhorn-Brüder (eindeutig der kräftigere Kaledan, da war Finh sich sicher) mit seinem schweren Stiefel zertreten hatte beim Versuch, ihn zu fangen. Sie hatten ihn anschließend in diese Höhle gebracht und an einen eingebauten Holzbalken gefesselt. Und seither hatten sie ihn nicht wieder davon befreit. Seine Notdurft verrichtete er in einen kleinen Eimer, der direkt neben ihm stand. Natürlich hatte er bereits am zweiten Tag versucht, diesen Eimer und seinen delikaten Inhalt als Geschoss gegen seinen Wächter zu schleudern (es war in diesem Falle der Hüne Grunwald – eines der wenigen Gesichter, die ihm hier neu waren), aber offenbar hatte der Mann damit gerechnet und war einfach ausgewichen. Seither erfüllte dieser Geruch die Höhle und verzog sich nur langsam. Die Idee, einen solchen Angriff ein zweites Mal zu unternehmen, war ihm nicht gekommen. Seither vergingen die Tage und Nächte gleichmäßig ereignislos. Finh hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sonnenlicht hatte er seit dem Tag seiner Gefangennahme nicht mehr gesehen, und er schlief, wann immer er schlafen wollte, ohne Tag- und Nachtrhythmus. Unregelmäßig erhielt er karge Mahlzeiten, und ihm war der Gedanke gekommen, daß diese Unregelmäßigkeit vermutlich dazu gedacht war, sein Zeitgefühl völlig vergehen zu lassen. Außerdem hatte er Durst. Er bekam deutlich zu wenig zu trinken, und als Brenneghan damit begann, ihn mit dem Versprechen auf genügend zu Trinken dazu zu bringen, die gestellten Fragen richtig zu beantworten, hatte Finh auch begriffen, daß das langsame Verdursten jetzt das Geschlagenwerden ersetzt hatte. Abgesehen von Brenneghan selbst redete niemand mit ihm. Natürlich hatte er es versucht. Aber auf keine seiner Fragen (die anfangs gewöhnt höhnisch, am Ende eher kraftlos albern waren) hatte der jeweils diensthabende Wächter geantwortet. Offenbar war auch das Zermürbungstaktik. Und verdammt, sie funktionierte allmählich. Irgendwann war er dazu übergegangen, vor sich hin zu brabbeln oder zu singen, aber schließlich fehlte ihm dazu die Kraft.
Die einzigen Gespräche, die er führte, waren die mit Brenneghan. Mit Brenneghan dem Jüngeren, wie er sich immer wieder vor Augen führen musste, auch wenn der Hauptmann der Füchse – die sich jetzt allerdings Schwarzkutten nannten – seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelte. Er trug den Bart bereits so wie der ältere Mann, der für Finh einmal so etwas wie ein Vater gewesen war. Allein der dunkle, kräftige Farbton des Haares wiesen darauf hin, daß dieser neue Brenneghan vor Jugend und Gesundheit nur so strotzte. In seinen Augen allerdings erkannte Finh von Zeit zu Zeit die gleiche Mischung aus Müdigkeit, Entschlossenheit und Kälte, die er schon bei dem alten Brenneghan bewundert und gefürchtet hatte. Außerdem, das hatte Finh bereits beim ersten Treffen festgestellt, war dieser neue Brenneghan ein Soldat. Nie sah er ihn ungerüstet oder unbewaffnet. Er dutzte keinen seiner Männer (die er Soldaten nannte), und er wurde nicht gedutzt.
Jeder dieser Besuche liefen gleichermaßen ab. Brenneghan kam herein und befahl dem jeweils Wachhabenden, ihn mit dem Jungen allein zu lassen. Und nachdem der Soldat (sicherlich wegen des Geruchs nicht ungern) die Höhle verlassen hatte, füllte der Hauptmann sich einen Krug mit kaltem Wasser und trank genüsslich einen Schluck, ehe er mit dem immer gleichen Satz begann:
“Fangen wir von vorn an.”
“Bin also geborn worden, und dann…”
Mehr brachte Finh nicht über seine wunde Kehle, bevor er wieder zu husten begann. Brenneghan nahm sich einen Stuhl, lehnte sich zurück und überschlug in einer bequemen Pose die Beine (Finh fand, daß das immer ein bisschen weibisch wirkte). Dann trank Brenneghan einen Schluck Wasser und stellte den Krug so auf dem Boden, daß Finh ihn gut sehen, ihn aber keinesfalls erreichen konnte. Er lies einen Augenblick vergehen, ehe er wieder sprach.
“Ich habe Euch verraten, wer das Kopfgeld auf Euch ausgestzt hat. Zwei Gold sind eine stolze Summe für einen wie Euch. Und nun verratet mir, was Ihr getan habt, um Euch einen mächtigen Mann wie Baron Kupferberg zum Feind zu machen. Und wenn ich es weiß, werdet Ihr nicht nur diesen Krug erhalten. Ich werde auch ernsthaft darüber nachdenken, Euch an den Mann zu verkaufen, statt, wie einige meiner Soldaten es gern sehen würden, zuerst Eure Hände und dann Euren Kopf auf ein Brett zu nageln und in unserem Hauptquartier an die Wand zu hängen.”
Natütlich schüchterte diese Androhung den Jungen ein, aber zwei Sachen waren es, die ihn dieses Spiel noch weiter vorantreiben ließen. Erstens war er ein Rattner und hatte viel zu viel er- und überlebt, um vor einem selbstgefälligen Penner wie Brenneghan und seinem Haufen Pisspötte zu kriechen. Und zweitens – was viel mehr wog, wie er sich eingestehen musste – hatte Felinda seine Entführung beobachtet und wusste, wo er war. Und wenn sie es wusste, wusste es auch Rogonn. Und Rogonn würde ihn nicht sterben lassen.
Oder?
Der Geist kam zu seltsamen Erkenntnissen, wenn man viel Zeit hatte, nachzudenken (wie er es auch schon damals erlebt hatte, als er mit aufgeschnittener Kehle bei Salas im Bett lag), und so hatte sich der Gedanke eingeschlichen, ob Rogonn das hier nicht alles inszeniert hatte, um Finh eine Lektion zu erteilen. Ihn Demut zu lehren. Unwillkürlich musste er an das seltsame Verschwinden von Ardhred denken, der wie Finh selbst eine Liebschaft mit Felinda gehabt hatte. Vielleicht war das der Weg, wie Rogonn nun auch Finh loswurde. Und da diese ganze Sache hier Finhs eigene Idee gewesen war, konnte Rogonn dann, wenn es wirklich mit Finhs Tod endete, eine weiße Weste vorzeigen und sagen, daß er diesen Ausgang nie gewollt hatte. Daß alles nur ein entsetzlich schief gelaufener Plan war, mehr Informationen über den neu auf dem Spielplan erschienenen, jungen Brenneghan zu erhalten.
Finh versuchte, den Gedanken beiseite zu wischen und starrte Brenneghan wieder an, als der seine Frage noch einmal präzisierte.
“Was also habt Ihr Baron Kupferberg getan, um eine so wertvolle Jagdbeute zu sein?”
“Alter…”, krächzte Finh hervor, “Ich weiß ja nich ma, wer der Penner is.”
Brenneghan nickte langsam, nahm dann den Krug auf, gönnte sich noch einen Schluck und goss den restlichen Inhalt anschließend langsam auf den Boden. Dann erhob er sich und schlenderte zu der Gangwindung, die aus dieser Höhle vermutlich zu einer nächsten führte.
“Wir werden sehen, ob Euch der Name morgen etwas sagt. Solange werdet Ihr kein weiteres Wasser erhalten. Aber zum Glück habt Ihr ja noch Euren Eimer.”
Damit war der Hauptmann der Schwarzkutten aus der Höhle verschwunden. Finh warf einen Blick auf seinen Notdurft-Eimer. Nein, so verzweifelt war er noch nicht. Dann beugte er sich vor, um zu sehen, ob er mit der Zunge wenigstens ein wenig des verschütteten Wassers vom Boden auflecken konnte.

Brenneghan verlies die Höhle. Er war nicht gänzlich unzufrieden. Noch ein paar Tage, dann würde der Junge gebrochen sein. Und dann erst würde er endgültig entscheiden, was sein Schicksal sein würde. Finh Rattner war, ohne selbst davon zu wissen, Brenneghans Eintrittskarte in die oberen Kreise der Barone, und diese Karte wollte er geschickt spielen.
Es gab bisher drei mögliche Enden:
Entweder würde Brenneghan an dem Jungen ein Exempel statuieren und ihn vor seinen Männern töten. Dann könnte endlich die alte Narbe verheilen, die der Junge vor Jahren der Organisation von Brenneghans Vater zugefügt hatte. Viele der Männer, die nun ihm die Treue geschworen hatten, hatten bereits seinem Vater gedient und erinnerten sich noch gut daran. Was das mit seiner Beziehung zu Baron Kupferberg anstellen würde, wusste er seit gestern. Die beiden würden dann vermutlich keine Freunde werden.
Eine weitere Möglichkeit würde sein, den Jungen tatsächlich Baron Kupferberg zu verkaufen. Erst gestern hatte er den Mann besucht und in Erfahrung gebracht, was der Grund für das Kopfgeld war. Das würde, so hoffte Brenneghan, eine Allianz mit dem doppelzüngigen Händler erwirken.
Aber es gab noch eine dritte Partei, die an Finh Rattner interessiert war. Brenneghan hatte, Tage bevor er bei Baron Kupferberg gewesen war, bei Baron Rospano nachgefühlt. Und auch wenn der Süd-Gondorianer so getan hatte, als wäre er nur mäßig an dem Jungen interessiert, so hatte Brenneghan doch eine deutliche Gier in den Augen des dickbäuchigen Patriarchen erkannt, die Finger an den Jungen zu legen. Offenbar hatte Rattner ein Talent dafür, wichtigen Männern auf die Füße zu treten.
Eine Tatsache, die sich jetzt für Brenneghan bezahlt machen könnte. Es wurde Zeit, die Karten auszuspielen.
Als nächstes musste er also in Erfahrung bringen, was Finh getan hatte, um sich den Zorn von Baron Rospano zuzuziehen. Dann würde er entscheiden.
Neben dem Höhlenausgang stand Leutnant Corrgin. Als Brenneghan aus der Höhle trat, straffte er sich.
“Geht wieder zu ihm hinein, Leutnant. Und diesmal ist es Euch gestattet, mit ihm zu sprechen, wenn er reden will. Ihr wisst, was wir von ihm wissen müssen?”
“Das weiß ich, Hauptmann.”
“Dann lasst ihn nicht warten.”
“Sehr wohl, Hauptmann.”
“Eines noch, Leutnant: Gebt ihm nichts mehr zu trinken, bis er etwas von Wert gesagt hat, ich einen anderen Befehl gebe, oder bis er kurz davor steht, zu kollabieren.”
“Verstanden.”
“Ich werde bis in die frühen Morgenstunden nicht erreichbar sein. Wendet Euch bei Fragen an meinen Seneschall.”
Corrgin nickte nur und wandt sich zum Eingang.
Brenneghan würde sich den Spaß nicht nehmen lassen, selbst die Farben und das Werkzeug zu besorgen, daß Kassedy brauchen würde, um Rattner eine neue Tätowierung zu verpassen. Mit ein wenig Bauchschmerzen dachte er einen Augenblick über die Frau nach. Kassedys Loyalität auszuloten war ebenfalls ein wichtiger Punkt der kommenden Zeit. Sie mochte Rattner, das war deutlich erkennbar. Aber was sie tun würde, um ihm zu helfen, das würde die Zukunft zeigen. Er hatte ihr mehr durchgehen lassen als jedem anderen seiner Soldaten. Vielleicht lag es daran, daß sie kein Soldat war. Und Frauen, so wusste Brenneghan nicht erst seit heute, brachten immer Schwierigkeiten. Andererseits war gerade Kassedy äußerst nützlich, und er hoffte tatsächlich, freundschaftliche Bande zu ihr aufbauen zu können.
Es gab also viel zu tun im Breeland. Raenne hatte ihm das nicht glauben wollen, als sie beide zusammen hier angekommen waren. Jetzt aber würde Brenneghans Seneschall hoffentlich eines Besseren belehrt sein, der wie all seine Landsmänner die gondorianische Selbstgefälligkeit an den Tag legte, wenn man über scheinbar unwichtige Landstriche wie das Breeland sprach.
Baron Brenneghan zog den Hut ein wenig tiefer ins Gesicht und bestieg sein Pferd.
Als ironische Reaktion auf den verdurstenden Jungen in der Höhle hatten die Valar offenbar beschlossen, es wie aus Eimern regnen zu lassen. Ein kurzes, ungekünsteltes Lächeln zog sich über Brenneghans Gesicht, bevor er unter den schützenden Baumkronen des Chetwaldes verschwand.
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