Es war einer dieser langen Abende, einer von vielen in Joys Jugend.
Sie hatten bis etwa acht Uhr auf ihre Mutter gewartet, dann hatten sie doch ohne sie zu Abend gegessen, weil die Zwillinge Hunger hatten. Und weder Joy noch ihr Vater wollten mit zwei hungrigen Achtjährigen über die Wichtigkeit von gemeinsamem Abendbrot in Familien diskutieren, also stand das Essen bald auf dem Tisch, der Stuhl der Mutter blieb leer.
Das war aber auch keine Seltenheit, denn Claudia Hobbs war eine beschäftigte Frau, die oft bis spät in den Abend hinein arbeitete. Sie sagte dazu immer, sie habe nun einmal einen wichtigen Job mit viel Verantwortung. Und sie dürfe ihr eigenes Wohl nicht vor das Wohl ihrer Klienten stellen. Wirklich verstehen konnte Joy das noch nie, aber das war wohl so ein Erwachsenending.
Nach dem Abendbrot räumten ihr Vater und sie die Küche auf, während Sam und Gregg sich bettfertig machten. Oder vermutlich eher noch eine Runde in ihrem Zimmer zockten.
„Wann, denkst du, kommt Mum?“, fragte Joy beiläufig.
„Bald. Sie hat gesagt, sie ist spätestens halb 9 zuhause.“
„Dad, es ist fast um 9.“
Er schwieg einen Moment und kratzte sehr konzentriert Essensreste von einem Teller.
„Sie kommt bestimmt bald heim.“
Joy erwiderte eine Weile nichts. Viel gab es dazu ja auch nicht zu sagen. Ihr Vater wusste genauso wenig, wann seine Frau nach Hause kommen würde, wie Joy. Nach einer Weile fragte sie etwas leiser: „War sie schon immer so?“
Ihr Vater runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Na, so...abwesend. Mum ist nie da und wenn sie da ist, dann ist sie immer so ernst. Auch wenn sie nicht auf Arbeit ist, denkt sie immer nur an die Akte, die sie noch durcharbeiten muss oder den nächsten Termin. Und ich frag mich, ob sie schon immer so war. So...kalt.“
„So etwas will ich von dir nicht hören, Joy“, entgegnete ihr Vater in besorgtem Tonfall. Er legte den Lappen weg und stellte sich vor sie, sodass sie ihn direkt ansah, und legte seine Hände auf ihre Schultern.
„Deine Mutter ist eine liebenswerte Person und sie liebt ihre Familie. Sie liebt dich und deine Geschwister von ganzem Herzen. Verstehst du?“ Joy nickte wenig überzeugt und ihr Vater dachte einen Moment lang nach. „Hör mal. Du hast Recht, deine Mum ist eine ernste Frau. Aber alles, was sie tut, tut sie für euch. Diese Wohnung? Die hätten wir ohne sie nicht. Von meiner Werkstatt könnten wir uns das nicht leisten. Sie arbeitet so viel, damit ihr ein sicheres, gutes Leben habt. Und du darfst deswegen nicht böse auf sie sein.“ Etwas beschämt schaute Joy zu Boden und kräuselte die Lippen, ein leises „Ok“ murmelnd. Ihr Vater folgte ihrer Kopfbewegung und versuchte, ihr in die Augen zu gucken. „Ja?“ – „Ja, Dad.“
„Lügst du mich an?“
Joy verdrehte die Augen und gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Nein, Dad. Du hast Recht.“ Das entlockte ihm ein erleichtertes Lächeln und er strubbelte ihr durchs Haar. „Sehr gut!“, erwiderte er, ihren lauten Aufschrei, gefolgt von „Och Mann, Dad!“, ignorierend. Während sie sich ihre Frisur mit einem bösen Blick wieder richtete, kehrte er dazu zurück, den Tisch abzuwischen.
„Familien müssen zusammenhalten, Joy. Das sind die einzigen Leuten, auf die du dich immer und überall verlassen kannst.“
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