Paris by night - Through Alice' Looking Glass
23.11.2012
Sandpapier
Kommentare: 1
autumn  fall
destiny
hope
flowing fleeing
mortalité
la fin

Ich lebte noch nicht lange in dieser Stadt, doch ich hatte bereits mehr von ihr gesehen, als die meisten, die mit mir angekommen waren. Ich war an den großen, von Lärm und Menschen erfüllten Plätzen gewesen, hatte das gesehen, was alle Touristen sahen, wenn sie hierher kamen. Aber da war noch mehr.  Hinter den funkelnden Lichtern, den glänzenden Häuserfassaden, den schönen Menschen dieser Stadt verbarg sich ein düstereres Antlitz. Ein dunkles Geheimnis, das in den feuchten Gassen und dunklen Ecken lauerte, für den, der genau hinsah. Eine uralte, pulsierende Kraft, die in allen großen Städten seit Anbeginn der Zeiten wirkte: Der Verfall.
Nicht die Art von Verfall, die sich an bröckelnden Hauswänden und heruntergefallenen Dachziegeln zeigt. Die Art, die sich in den schmutzigen Gesichtern von Straßenkindern, den zerfurchten und vernarbten Gesichtern der Obdachlosen, den zornigen Schmierereien der Jugendlichen widerspiegelt. Ich habe einmal gehört, man könne eine Stadt nur kennenlernen, wenn man ihr Zentrum gesehen hat. Die Vororte sind in allen Städten gleich. Gleich trostlos. Angefüllt vom schweren, verwesenden Geruch geplatzter Hoffnungen und zerstörter Träume. Nur wenige schaffen es je, diesen Gegenden zu entkommen. Und die, die es tun, werden die Erinnerung daran niemals wieder ganz abschütteln. Manche lassen sich zu Verzweiflungstaten hinreißen, um dem zu entkommen. Man kann an jedem beliebigen Tag die Zeitung aufschlagen oder den Fernseher anschalten und hören, wie von Protesten und Krawallen irgendwelcher Jugendlicher in irgendwelchen Städten berichtet wird. Ein paar Tage lang beherrschen sie dann die Medien, und der gemeine Bürger ist im besten Fall gelinde erstaunt, wieso diese jungen Leute nicht etwas Vernünftiges tun anstatt Autos und Mülltonnen anzuzünden. Keiner von  ihnen erkennt, was wirklich dahintersteckt. Dass es keine Hoffnung mehr gibt für diese Menschen. Dass ihre Proteste das letzte verzweifelte Aufbäumen einer sterbenden Stadt gegen den Verfall sind. Sie laufen blind und taub durch die Straßen, geblendet von der Maske, dem schönen Schein. Was sich hinter dieser Maskerade abspielt, werden sie erst erkennen, wenn es schon zu spät ist. Wenn der Verfall unaufhaltsam geworden ist. Wenn er anfängt, sich durch die Mauerfugen und Türschlitze der Häuser zu schleichen. Wenn der giftige, alles zersetzende Hauch sich ausbreitet und das lahmlegt, was Generationen von Menschen in ihrem törichten Bemühen nach Macht und Glanz aufgebaut haben.
Eine Stadt, die dem Untergang geweiht ist. Ein sinkendes Schiff, dessen Leck bisher verborgen geblieben ist.
Keiner von ihnen kann sehen, was ich sehe. Nicht der alte Zeitungsverkäufer an der Straße, der seit Jahren die neusten Nachrichten durch die Straße ruft. Nicht die kleinen Kinder, die über das Kopfsteinpflaster rennen. Nicht der junge Mann, der sich rücksichtslos an zwei alten Damen  vorbeidrängelt, weil er schon wieder zu spät zur Vorlesung kommt. Sie alle schlafen noch den Schlaf der Unwissenden, der Unschuldigen. Keiner von ihnen ist schuld an dem was geschieht, doch sie alle tragen dazu bei, dass es für diese Stadt nur noch abwärts geht. Wer die Augen offen hält, kann es fühlen. Nicht nur hier. Babylon. Troja. Mykene. Rom.  Alle längst dahin, fortgetragen im Lauf der Zeiten. Nur wenig Menschengeschaffenes kann dem Verfall trotzen.
Es wird der Tag kommen, wenn auch für diese Stadt die letzte Stunde schlägt. Wenn ihre Lichter ausgehen, wenn nichts mehr davon ablenkt, dass das Ende gekommen ist. Jeder trägt dazu bei, mit jedem Atemzug, mit jeder Lüge, mit jedem Verrat.  Jeder, der wegsieht, wird am Ende ein Schuldiger sein. Wer die Augen verschließt vor der Dunkelheit, vor dem Bösen, das in ihr lauert und auf seine Stunde wartet, unterzeichnet das Todesurteil. So viele Mächte sind am Werk, so viele Intrigen und finstere Machenschaften. Die Schlinge zieht sich zu.
Immer
und
immer
schneller.
23.11.2012 21:58
Schön nochmal den Text zu lesen, wegen dem Alice getötet... und doch wiedergeboren wurde. Ich glaube immer öfter... sie war schon immer so, der Kuss hat sie nicht verändert, nur unsterblich gemacht.
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