Das Handy auf dem Nachttischchen klingelte. Der Mann im Pyjama tastete genervt und schlaftrunken nach dem Handy, während der Klingelton sich langsam immer lauter und penetranter wurde. Nachdem er das Handy endlich zu fassen bekam, drückte er auf eine grün leuchtende Taste, um den Anruf anzunehmen . „Verdammt! Könnt ihr Pisser mich nichtmal Nachts in Ruhe lassen? Wisst ihr überhaupt wie viel Uhr es ist?! Schlimm genug, dass ihr mich dauernd beim Vögeln stört! Verpisst euch!“, schimpfte der Mann auf Russisch. Er war schon drauf und dran, aufzulegen, als sich am Ende der Leitung eine Stimme zu Wort meldete. Eine kalte, forsche Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Wanja kannte diese Stimme. Sie gehörte Alex, seinem Vorgesetzten. „ Halten Sie die Klappe Sidorov, und sparen Sie sich ihr Gejammer! Sie haben wohl vergessen, dass es Arbeit für Sie zu erledigen gibt? Der Menidzher wird nicht erfreut sein, wenn ich ihm erzähle, dass diese dreckige Ratte von Leclerc immer noch lebendig herumläuft! Eine Aufgabe, um die SIE sich zu kümmern hatten! Ich-will-RESULTATE! SOFORT!“ Wanja zuckte zusammen. Verdammt. Eigentlich hatte er gehofft, dass die Standpauke noch etwas auf sich warten ließe, doch offenbar hatte er sich geirrt. „ Mhh, jaa Chef. Ich kümmer mich drum. Versprochen.“, gab er kleinlaut zurück. „Ich habe ihre Ausreden satt!“, herrschte Alex ihn an. Mit drohendem Tonfall fuhr er fort: „Binnen 24 Stunden werden Sie den Auftrag ausgeführt haben! Andernfalls werden wir einen anderen Eisenmann engagieren! Einen schönen Abend wünsche ich!“ Klick. Aufgelegt. Wanja richtete sich auf und schaltete die Lampe auf dem Nachttisch an. Das Handy ließ er wie eine heiße Kartoffel auf den Tisch fallen und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.“Scheiße!“, dachte er sich. Wie war Alex so schnell dahinter gekommen? Egal. Jetzt musste er zuschauen, dass er den Auftrag schnellstmöglich erledigte. Sonst würden ihm 20.000 Euro durch die Lappen gehen. Geld, dass er in seiner gegenwärtigen Situation gut gebrauchen konnte. Die ständigen Besuche bei Prostituierten und sein kostspieliger Lebenswandel hatten ihm eine Menge Schulden eingebracht. Wanja blickte auf den Wecker, der auf seinem Nachttisch stand. Es war 4 Uhr morgens. „Diese Anwälte schlafen wohl nie!“, dachte er. Er stand auf, ging ins Bad und wusch sich. Dann blickte er in den Spiegel. Ein schmieriger Enddreißiger mit zurückgegeltem, dunklem Haar, schiefer Nase, gelben Zähnen und Pockennarben an den Wangen blickte zurück. Der verschlagene Blick aus seinen dunkelbraunen Augen und sein dünnes Oberlippenbärtchen vervollständigten sein zwielichtiges Äußeres. Die Fettpölsterchen, die seine Tätowierungen bizarr in die Breite zogen und die ergrauten Schläfen zeigten ihm, dass er langsam zusehen musste, fürs Alter vorzusorgen, denn lange konnte er „diesen Scheiß“ nicht mehr machen.
Nachdem er sich rasiert und gewaschen hatte, ging er zurück in seinen Schlafzimmer und zog sich an. Um diese Uhrzeit gab es im Hotel, indem er wohnte, keinen Kaffee, also musste er zur Tankstelle. Er stieg in seine Cowboystiefel aus seltenem Krokodilleder, zog eine Jeans und ein schwarzes Hemd an und schlüpfte zuletzt in eine Lederjacke im Rockerstil. In dieser Aufmachung hielten ihn die meisten Leute auf der Straße für einen Zuhälter und waren damit gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Wanja Sidorov war ein Killer. Der Beste, der auf der Honorarliste der „Familie“ stand. Wenn es darum ging, ein Ziel, diskret, sauber und schnell zu beseitigen, dann war er für den Menidzher das Mittel der Wahl. Anders als andere Kollegen seiner Zunft verzichtete er nämlich darauf ein Blutbad anzurichten und dem eigenen Sadismus freien Lauf zu lassen. Wozu auch? Er war ein ehemaliger Scharfschütze der Roten Armee, eine einzige Kugel war absolut ausreichend für ihn, um die meisten seiner Opfer zu töten.
Wanja schloss die Tür seines Raums hinter sich ab und ging Richtung Fahrstuhl. Unten in der Lobby angekommen, ging er zur Rezeption, gab seinen Schlüssel ab und ging nach draußen Richtung Tiefgarage. Dort lief er zu seinem Wagen, einem gelben Lamborghini. Er drückte auf einen Knopf des Autoschlüssels und die Flügeltüren des Sportwagens glitten lautlos nach oben. Er stieg ein und betätigte abermals den Knopf; die Flügeltüren glitten wieder nach unten. Er raste durch die fast leeren Straßen des nächtlichen Paris, nur Nachts konnte man den Wagen voll ausreizen, tagsüber waren die Straßen der Metropole chronisch verstopft. An der Tankstelle angekommen, kaufte er sich einen Becher des ersehnten Heißgetränks und einen Donut und setzte sich wieder in seinen Wagen, um ein frühes Frühstück einzunehmen und über die nächsten Schritte nachzudenken, die er in der Leclerc-Sache unternehmen wollte. Jean-Marie Leclerc war ein Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Paris und als solcher, in die erst kürzlich auf Betreiben der französischen Regierung hin gegründete Anti-Mafia Kommission berufen worden, nachdem die Aktivitäten der organisierten Banden in der Hauptstadt überhandgenommen hatten. In dieser Funktion steckte er seine Nase in Dinge, die ihn nichts angingen und hatte schon mehrere Brüder durch seine geniale Beweisführung und seine kompromisslose Art hinter Gitter gebracht. Am Strafgericht Paris I, wo er seinen Dienst verrichtete nannten sie ihn „Monsieur Gnadenlos“. Das Problem mit ihm war, das er als der Überzeugungstäter der er war, sowohl mit Bestechungsversuchen als mit Todesdrohungen nicht kleinzukriegen war. Verbunden mit seiner hohen Erfolgsrate, hatte sich Leclerc zu einem echten Problem für die Geschäfte der Familie entwickelt. Um dieses Problem zu lösen und die anderen Staatsanwälte etwas in ihrem Eifer zu bremsen, hatte der Menidzher daher die Exekution Leclercs angeordnet. Wanja trank die letzten Schlucke aus seinem Becher. Anfangs hatte er den Plan gehabt, Leclerc einfach bei einer seiner Juravorlesungen, die dieser als Gastdozent an der örtlichen Universität hielt, zu erschießen. Sich unter die Studenten zu mischen und dann nach der Tat in der aufkommenden Panik unerkannt zu flüchten wäre leicht gewesen. Doch er hatte den Plan schnell verworfen, da er dazu zu nah an sein Opfer heranmusste und Operationen bei Tag eine zusätzliche Schwierigkeit darstellten. Dasselbe galt für alle öffentlichen Orte wie Metrostationen oder Restaurants. Auch wenn ein Revolverattentat sicher seinen Reiz gehabt hätte. „Wie bei Clint Eastwood.“, dachte Wanja mit einem Schmunzeln. Sein neuer Plan sah daher vor, ihn einfach aus sicherer Entfernung mit einem Gewehr auf dem Weg zur Arbeit zu erledigen. Als Profi der er war, hatte er einen detaillierten Tagesplan seiner Zielperson ausgearbeitet, indem er ihn tagelang zuvor gestalkt hatte. Diese „Ermittlungen“ kosteten eigentlich die meiste Zeit und waren trotzdem unerlässlich für einen erfolgreichen Abschluss des Auftrags. Doch leider hatte es diesmal etwas länger gedauert, weswegen ihm sein Chef Streß gemacht hatte. Alex. Aufgeblasenes Arschloch. Denkt er ist Gott, nur weil er ein paar Sterne mehr auf den Schultern hat, dabei ist er nur das Schoßhündchen vom Boss. Wenn Wanja an Alex blasierte Visage dachte, bekam er schon das Kotzen.
Er blickte auf da Ziffernblatt seiner gefakten Rolex. Es war bereits kurz vor sechs. Er warf den leeren Pappbecher aus dem Fenster, startete den Motor und fuhr Richtung Gare du Nord. Er hatte in der ganzen Stadt kleine Waffenverstecke eingerichtet, damit er im Fall einer Hausdurchsuchung mit weißer Weste dastand. Am Bahnhof war eins davon. Er parkte den Wagen in der Tiefgarage und ging zu den Schließfächern. Am Schließfach 666 bleib er stehen. Er öffnete es und holte den Koffer, der sich darin befand, heraus. Dann schloss er wieder ab und ging zurück zum Wagen. Er blickte auf die Uhr. Es war kurz vor halb sieben. Er musste sich beeilen, wenn er nicht im Berufsverkehr steckenbleiben wollte. Sein nächstes Ziel war Notre-Dame. Er fuhr bis zur Kathedrale und parkte den Wagen in einer Seitengasse in der Nähe. Um diese Uhrzeit waren hier noch nicht so viele Touristen unterwegs, sodass er seine Arbeit ungestört verrichten konnte. Mit dem Koffer in der Hand und einer Sonnenbrille auf der Nase betrat er das weltberühmte gotische Bauwerk. Drinnen waren nur einige, scheinbar unermüdliche japanische Touristen mit großen Kameras unterwegs, die laut schnatternd alles ablichteten, was ihnen in die Quere kam. Ein Geistlicher, der gerade aus einem Beichtstuhl kam, warf einen mißbilligenden Blick auf die Reisegruppe. Wanja schenkte dem Prunk der Kathedrale keine weitere Beachtung und schlich unauffällig zum Treppenaufgang der in den rechten Turm des Gotteshauses führte. Er blickte sich kurz um, und als er sicher gegangen war, dass ihn niemand beobachtete, brach er das Schloss mit seinem Multitool auf. Es dauerte ein paar Sekunden bis der mittelalterliche Verschlussmechanismus nachgab, doch dann knackte es kurz und das Schloss sprang auf. Er schlüpfte durch die Tür und schloss sie hinter sich wieder. Er ging die Treppe hoch, bis er im Glockenstuhl angekommen war. Völlig aus der Puste, wegen der verdammten Treppen, blickte er nach oben: Über sich sah er in etwa zehn Metern Höhe die riesige Glocke baumeln. Er trat an das Geländer. Vor ihm erstreckte sich das gerade erwachende Paris. Da es Winter war, war es noch dunkel und man konnte die Lichter der Stadt sehen. Wanja legte den Koffer auf den Boden und öffnete ihn. Dann nahm er die Eizelteile des Gewehrs heraus und baute es mit den geübten Handgriffen eines Profis zusammen. Ein WA 2000 aus deutscher Produktion. „Nur das Beste für den Herrn Staatsanwalt“, dachte er zynisch, während er den Schalldämpfer anschraubte. Er steckte ein Magazin Patronen in die Waffe und lud durch. Dann legte er das Gewehr beiseite und blickte abermals auf die Uhr. Es war mittlerweile Punkt sieben Uhr. Nach seinem Zeitplan, müsste Leclerc jeden Moment mit seinem Wagen über die Brücke Pont Neuf fahren, wie jeden Tag, wenn er zum Gericht fuhr. Die Brücke lag Luftlinie etwa 500 Meter von seiner derzeitigen Position entfernt. Eine gute Entfernung für einen Scharfschützen. Er hockte sich hin und lehnte das Gewehr an die Brüstung. Durch das Zielfernrohr visierte er die Brücke an und justierte dabei am Vergrößerungsrädchen. Wie von ihm erwartet rollte ein schwarzer 3er BMW kurze Zeit über die Brücke. Durch das Zielfernrohr sah er, dass Leclerc am Steuer des Wagens saß. Wanja grinste breit. „Zahltag, Arschloch!“, murmelte er. Während der rote Lichtpunkt auf die Schläfe des Staatsanwalts wanderte, war ihm so als ob in seinem Kopf die Melodie von Tschaikowskys 1812 Ouvertüre ertönte. Er drückte ab.
„Willkommen bei Radio France mit den News! Meine Damen und Herren, soeben hat uns eine erschreckende Meldung erreicht! Der bekannte Anti-Mafia-Staatsanwalt Jean-Marie Leclerc wurde offenbar von einem bislang unbekannten Täter auf dem Weg zur Arbeit erschossen! Die herbeigeeilten Rettungskräfte konnten nur noch den Tod des 52-jährigen feststellen. Nach Angaben der Polizei ist die Kugel durch das Beifahrerfenster eingedrungen und hat ihn am Kopf getroffen, er war auf der Stelle tot. Daraufhin ist der Wagen, des durch sein Engagement gegen die organisierte Kriminalität bekannt gewordenen Juristen von der Fahrbahn abgekommen und in ein entgegenkommendes Fahrzeug gerast. Die Insassen des Wagens schweben nach Aussage der Ärzte immer noch in Lebensgefahr. Jean-Marie Leclerc hinterlässt eine Frau und vier Kinder. Die Angehörigen wollen sich zur Stunde noch nicht zu dem Vorfall äußern. Ein Sprecher des Innenministeriums äußerte sich in einer ersten Stellungnahme wie folgt…“
Alex schaltete das Radio aus und nahm noch einen Schluck aus seiner Teetasse. „Na endlich! Dachte schon ich müsste noch deutlicher werden, bis dieser Tagedieb mal in die Gänge kommt!“, brummte er zufrieden. Er saß am Frühstückstisch, vor ihm eine Portion Rührei und Speck, und war bester Laune, was bei ihm nicht häufig der Fall war. Dies hatte im wesentlichen zwei Gründe: Seine Frau Yvonne, die er für ein zänkisches Weib hielt, war um diese Uhrzeit noch nicht wach, und konnte ihm daher nicht auf die Nerven fallen, was der eine Grund für seine gute Laune war. Der andere war soeben durch den Äther gerauscht. Außer ihm war noch sein Butler Petr Petrovich zugegen, der ihn mit sein Frühstück und die Morgenzeitung auf einem Wägelchen in den Speisesaal brachte. „Nun können Sire ja die zweite Tranche überweisen. Ich bin sicher, dass Wanja Michailowitsch sie schon sehnsüchtig erwartet.“ , schlug der Butler vor. „Hmm da haben Sie recht Petrovich. Wobei der alte Taugenichts das nicht verdient hat. Was solls? Rufen Sie Zürich an und veranlassen Sie die Überweisung.“
Der Tag fing gut an für Aleksandr Glebov und er machte sich berechtigte Hoffnung, dass der Tag noch besser werden würde. Heute stand der Geschäftsabschluss mit den Libanesen ins Haus: Waffen, Muniton und Ersatzteile im Gesamtwert von 500.000 Euro würden den Besitzer wechseln. Und angesichts der kritischen Lage in Nahost gab es eine gewisse Garantie dafür, dass sie wieder vorbeikommen würden, um weiteres Material zu kaufen. Als kleine Dreingabe würde Alex ihnen auch ein paar alte Katjuscha-Raketen nebst Abschussvorrichtung schenken, schließlich musste man seine Kunden bei der Stange halten. Das Einfädeln lukrativer Waffengeschäfte war mittlerweile eine seiner Spezialitäten und trug nicht unwesentlich zum unermesslichen Reichtum der Familie bei. Neben seinen Pflichten als Geschäftsmann hatte er heute auch seiner Pflicht als Rechtsbeistand der Familie nachzukommen: Ein paar der Jungs haben es wohl ein bisschen Übertrieben und standen jetzt vor Gericht. Das sie unschuldig waren am Tod der beiden vietnamesischen Prostituierten war ja wohl klar! Jedem rutscht schließlich mal die Hand aus…
Der Schriftsatz war fertig abgetippt und musste nur noch zum Gericht. Da der Richter gekauft war, war die Verhandlung reine Formsache. Nichtsdestotrotz war es Arbeit, die erledigt werden musste. Und er würde sie heute mit besonderem Elan erledigen…
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