Es war ein warmer Tag, doch durch den Zugwind spürte Joy davon wenig, als sie auf ihrem Motorrad durch die Straßen raste. Sie wusste, sie hatte es nicht mehr weit, doch es war noch weit genug, um nochmal richtig aufzudrehen. Sie beschleunigte die Maschine, spürte den Satz sowohl in den Getrieben als auch in ihren eigenen Knochen, als sie noch viel schneller als vorher voranbrauste. Da war die Kurve plötzlich schon ran und Joy genoss das Adrenalin, das durch ihren Körper strömte, als ihr Gehirn rote Alarmleuchten blinken ließ. Oder war das die Warnlampe des Motorrads? War sie zu schnell? Keine Ahnung.
Sie konnte die Werkstatt ihres Vaters schon am Ende der Straße sehen, also ging sie scharf auf die Bremsen. Vermutlich schärfer, als sie sollte, denn jetzt blinkte da definitiv eine Warnlampe auf und das Display gab ihr panische Gefahrenmeldungen. Das tat es aber öfter.
Laut quietschend und ächzend brachte sie die Maschine zum Halt und verharrte einige Sekunden schwer atmend und grinsend. Sie wurde immer besser. Bald würde sie eine bessere Maschine brauchen.
Dann herrschte seltsamerweise Stille. Sie sah sich verwirrt um. Normalerweise stand jetzt bereits ein wild fuchtelnder Vater vor ihr, mit puterrotem, aufgeregtem Gesicht und erzählte ihr etwas davon, dass man seine Maschinen nicht so beanspruchen kann und was da alles schiefgehen kann und wo zur Hölle denn schon wieder ihr Helm sei. Darauf hatte sie sich eigentlich gefreut. Stattdessen stand da niemand.
Sie klinkte sich aus und stieg ab. „Dad?“, rief sie in die offene Werkstatt hinein.
Von irgendwo hinten links kam eine Antwort hinter einem...keine Ahnung, irgendeinem großen Gerät hinterher. „Hier. Ich bin hier, Süße.“
Joy zog die Augenbrauen hoch und folgte der Stimme. Sie fand ihren Vater auf dem Boden sitzend, wie er an besagtem Gerät schraubte. Er hob kurz den Blick und lächelte, ein Lächeln, das seine Augen aber nicht zu erreichen schien. „Hey.“
„Hey“, antwortete Joy und setzte sich neben ihn. Sie sah ihn misstrauisch an. „Ich bin grad angekommen.“
„Das sehe ich.“
„Ich bin sehr schnell gefahren. Geradezu unvernünftig schnell.“
„Ja, das habe ich gehört.“
Sie schwieg einen Moment. „Und einen Helm hatte ich auch nicht auf.“
Cameron Hobbs seufzte leise, schraubte aber ungestört weiter. „Du bist alt genug, Kleine, du weißt schon, was du da tust.“
Das war schon irgendwie wie ein Schlag ins Gesicht. Joy starrte ihren Vater entgeistert an und ihr Mund öffnete sich ein paar Mal wortlos, bevor sie sich zu einer Antwort aufrappeln konnte. „Bist du krank?“ – „Nein, bin ich nicht.“
„Sind die Zwillinge krank?“
Er schüttelte den Kopf.
„Dann...was zur Hölle, Dad?“ Er antwortete nicht.
Sie sah ihn verärgert an. Nach einer Weile krempelte sie ihren Ärmel hoch, unter dem ein frisch gestochenes Tattoo zum Vorschein kam, ein stilisierter Baum. „Das wollte ich dir zeigen, hab ich mir heute machen lassen.“
Nun hob er den Blick und betrachtete die Tätowierung einen Augenblick. „Gefällt mir.“, kommentierte er knapp. Dann hielt er einen Moment inne, schloss die Augen und massierte sich kurz die Schläfen.
„Ich habe heute mit deiner Mutter gesprochen. Sie wird ausziehen.“
Das war eine merkwürdige Mitteilung und Joy verstand sie nicht. Ausziehen? Warum? Musste sie in einem anderen Sektor des Konzerns arbeiten oder nahm sie sich allein Urlaub? Es dauerte einen Augenblick, bis Joy verstand und sie ihren Blick wieder zu ihrem Vater hob. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, das macht ihr nicht.“
„Süße, ich weiß, das ist schwer zu verstehen-“
„Nein, das geht nicht. Das könnt ihr nicht machen, was sollen Gregg und Sam denken. Die sind doch noch viel zu jung, um das zu verstehen!“
„Sie werden lernen müssen zu verstehen, Joy. Du musst lernen zu verstehen. Deine Mutter und ich, wir haben miteinander nichts mehr zu tun. Wir sind nicht mehr glücklich miteinander, verstehst du? Wir...wir sind einfach nicht mehr gut füreinander.“
Joy sah ihn entgeistert an. „Aber ihr habt es doch die letzten zwanzig Jahre problemlos hingekriegt, was ist jetzt anders?“
Er warf hilflos die Arme in die Luft. „Menschen verändern sich, Joy, das passiert nunmal! Und manchmal verändern sich dann Dinge mit ihnen.“
„Aber...“ Ihre Stimme brach ab und sie unterdrückte ein Schluchzen. Das hatte sie nicht kommen sehen. Sie bemerkte gar nicht, wie die Tränen anfingen zu laufen.
Ihr Vater nahm sie in den Arm. Sie ließ es zu. „Hey...“, murmelte er und strich ihr übers Haar. „Das ist ok. Das hat nichts mit euch zu tun und wir haben euch doch trotzdem lieb...wir werden einfach nur nicht mehr alle zusammen wohnen. Aber wir sind trotzdem noch eure Eltern.“
Sie unternahm mehrere Anläufe, etwas zu sagen, die jedoch von ihren Tränen verschluckt wurden. Endlich bekam sie hervor: „Aber...Familien müssen zusammenhalten. Das hast du gesagt, Dad, das hast du immer gesagt.“ Er schwieg eine lange Zeit und sie spürte sein Herz rasen.
„Wir halten auch zusammen, Joy. Du, deine Geschwister und ich. Ich bleibe bei euch und wir halten zusammen. Das verspreche ich dir, egal was passiert.“