"Don! Don, du musst kommen! Schnell!"
Keenans Stimme hallte den Hügel hinauf. Keenan war der schnellste Läufer von Tiernan Glen. Wenn er geschickt wurde, dann bedeutete das nur eins: Die Siedlung hatte mal wieder irgend ein Problem, mit dem sie nicht allein klar kam, und die Alten hatten entschieden, die Sache mit mehr Durchschlagskraft zu regeln. Fabelhaft!
Donál ließ noch einmal die Axt auf einen Scheit niedersausen, als hätte er das Geschrei des Jungen nicht gehört. Aber da hielt der Bursche schon keuchend an, hauchte noch ein weiteres "Don, schnell!" und blickte ihn dann erwartungsvoll an. Donál verdrehte die Augen und schaute nach oben in den Himmel.
"Könnt ihr mich nicht ein einziges Mal in Ruhe lassen?", stieß er aus, und seine Stimme verwandelte sich in der kalten Morgenluft in heißen Dampf.
"Aber wir waren doch schon lange nicht mehr hier.", erwiderte Keenan verwundert.
"Ich habe nicht mit dir geredet.", knurrte Donál.
"Mit wem denn dann?"
"Mit den Göttern."
"Mit den...", hob Keenan fragend an, wurde aber unterbrochen.
Denn Donál knurrte noch einmal und wand sich dem Läufer zu. Der mächtige Bart, das lange Haar, die bepelzten Schultern, die wettergegerbte Haut und die Holzfäller-Axt in seiner Hand hätten schon gereicht, um Keenan zum Schweigen zu bringen. Aber Donál hatte zudem diesen Ausdruck in seinen eisblauen Augen, der in feigeren Männern als Keenan einen Fluchtinstinkt hervorgerufen hätte.
"Warum schicken dich die Alten, Keenan?", erklang nun eine weitere Stimme – die einer Frau. Keenan und Donál drehten sich zum Haus um. In der Tür stand Máire, Donáls Frau, eingewickelt in warme Felle. Keenan versuchte nicht einmal, seine Erleichterung zu verbergen.
"Bewaffnete Männer aus der Hauptstadt sind in der Siedlung.", berichtete er, "Es geht um die Jahreskollekte. Sie haben die Anweisung, noch mehr zu holen, weil wir dieses Jahr weniger geliefert haben als in den Jahren zuvor. Und nun wollen sie fünf Knaben mitnehmen und in das königliche Heer stecken, wenn wir nicht mehr zahlen können."
Donál knurrte wieder, und Keenan verstummte.
"Erkläre mir, warum das mein Problem ist, Keenan.", unterbrach Donál die Stille.
"Naja... du bist... der Obmann.", antwortete Keenan vorsichtig.
"Hab mich nie zur Wahl gestellt."
"Aber wir haben dich trotzdem gewählt, weil... du der beste Kämpfer der Siedlung bist."
Donál seufzte schicksalsergeben und stampfte zum Haus. Er nahm Máire sanft in die Arme und gab ihr einen Kuss.
"Ich nehme die Hunde mit. Mittag bin ich wieder da."
Máire nickte schmunzelnd, und noch ehe sie ihn gehen ließ, nahm sie ihn noch einmal bei den Schultern und küsste ihn lange. So lange, dass es Keenan beinahe unangenehm wurde.
Als Keenan sich schließlich wieder auf dem Weg zur Siedlung machte, war er sich nicht sicher, welchen seiner Begleiter er mehr fürchten sollte: den blonden Hünen vom Berg oder die beiden kalbsgroßen Hunde, aus deren Kehlen ein tiefes Knurren erklang, wann immer er sie ansah.
Das Langhaus war bewacht von vier Soldaten, auf deren Wappenröcken die königliche gekrönte Ziege von Albernia prangte. Donál konnte sehen, dass alle Bewohner des Glens sich vor dem Haus versammelt hatten. Die Stimmung war aufgeheizt. Es würde nur ein kleiner Funke genügen, und die Sache würde aus dem Ruder laufen. Obmann... Solche Sachen regelte ein Obmann, nicht?
"Lasst uns durch! Lasst uns durch!", krakelte Keenan, um für sich und Donál den Weg zur Tür freizumachen. Donál selbst stampfte ruhig hinter Keenan her, ebenso wie die beiden Hunde. Erst die Wachen hielten sie auf.
"Was wollt ihr?", fragte einer von ihnen gereizt.
"Das ist der Obmann der Siedlung.", begann Keenan, doch der Soldat unterbrach ihn.
"Und wenn es die Möse der Kaiserin Mutter persönlich wäre – wir haben Anweisung, keinen reinzulassen."
"Wer führt den Trupp?", hob nun Donál beängstigend ruhig die Stimme und machte einen unbequemen Schritt an den Soldaten heran. Der straffte sich und lies die Hand zum Schwertgriff fahren. Doch seine Stimme strafte die selbstsichere Geste lügen. "Was?"
"Ich will mit deinem Hauptmann sprechen und ihn um Einlass bitten, damit wir die Sache hier regeln können.", erklärte Donál ruhig.
Der Soldat nickte. "Ich hole ihn her."
"Danke!", antwortete Donál und legte die Hände geduldig auf den Rücken.
Es dauerte nur einen Augenblick, bis der Soldat wieder nach draußen kam. Hinter ihm ging ein anderer Mann, in schwerer Rüstung dem Geräusch nach. Kettenglieder sangen fein auf Eisenplatten.
Der Mann trug eine teure Plattenrüstung. Auch sein Wappenrock zeigte die königliche Ziege. Doch es war der weiße Umhang, der verriet, dass es sich hier um einen Ritter der Königsgarde aus Havena handelte. Der Ritter hatte feine Züge. Sein Haar hatte die Farbe von Stroh. Ein selbstgefälliges Schmunzeln umspielte seinen Mund, ein Ausdruck, der sagte, wie sicher er sich im Umgang mit den ungebildeten Talbewohnern fühlte. Dieser Mann wusste ganz genau, wie er auf andere wirkte. Vermutlich war er geübt darin, sich zu inszenieren, um andere dazu zu bringen, das zu tun, was er von ihnen wollte, durch Schmeicheleien oder Einschüchterung.
Donál betrachtete den Mann einen Augenblick fasziniert und vor allem in der Gewissheit, wie diese Begegnung enden würde.
"Nun,", hob der Ritter an, "es gibt hier einen, der an unserer Verhandlung teilnehmen will."
Donál räusperte sich. "Das bin ich. Der Obmann."
Der Ritter blickte Donál ins Gesicht. Donál beobachtete die Züge des Mannes und versuchte, sie zu lesen. Nur kurz schlich sich Verwunderung in das hübsche Gesicht, dann lächelte der Ritter wieder. Donál blickte zu Boden.
"Der Obmann, ja?", sprach der Ritter belustigt weiter, "Korrigiere mich, aber ein Obmann ist doch so etwas wie ein Schiedsrichter, nicht?" Donál nickte. Der Ritter fuhr fort. "Gut, gut! Dann entscheide, Obmann. Ich bin im Auftrag von König Ciaran hier. Unsere Forderungen sind eindeutig. Gebt uns die fehlenden Erze und das Korn, oder gebt uns fünf Knaben für das Heer." Donál blickte wieder auf und musterte das Gesicht des Ritters. Der Ritter musterte zurück. Und da schlich sich endlich der erwartete Ausdruck eines keimenden Verdachtes in das Gesicht des galanten Mannes. Er begann nachzudenken. Das war die Zeit, die Donál brauchte.
"Ich sage Euch, was passiert.", sagte nun Donál, "Ihr bekommt weder Erze, noch Korn, noch Knaben." Ein ungläubiger Ausdruck stahl sich in die Gesichter der Soldaten. Allein der Ritter kniff die Augen zusammen, als ihm die Erkenntnis dämmerte.
"Ich kenne dich. Woher kenne ich dich?", fragte er.
Donál antwortete nicht, sondern wand sich den Bewohnern des Glenns zu.
"Heute ist nichts Außergewöhnliches passiert, meine ich. Wie seht ihr das?", sprach er zu den Bewohnern. Die einfältigen Leute des Tals schauten zuerst ein bisschen dümmlich, aber dann schlich sich Erkenntnis in ihre Gesichter. Zuerst bei wenigen, dann bei immer mehr Leuten. Donál fuhr fort. "Die Gegend rund um das Glen ist gefährlich. Es gibt Räuberbanden und wilde Tiere. Jeder von uns weiß, dass man sich in dieser Zeit des Jahres nicht weit in die Wälder wagen darf. So viele verschwinden einfach und werden nie wieder gesehen." Damit drehte er sich wieder zu dem Ritter und seinen Soldaten um. "Das weiß doch wirklich jeder."
Ser Lystar aus dem Hause Nesbitt, Veteran der Königsgarde, starrte Donál mit aufgerissenen Augen an, während der die Axt hob. Und endlich wusste der Ritter, wer da vor ihm stand.
"Ser... Ser Rowan? Bei den Göttern... Ihr seid..."
Schmatzend versank die Axt im Hals des Ritters.
"Ich weiß.", sagte Donál, "Ich bin tot."
Der Ritter sank zu Boden, und während sein Blick sich trübte, starrte er unversonnen auf den blonden Hünen vom Berg, während ringsherum alles in Bewegung geriet. Der Funke hatte genügt.
Die Axt spaltete die Luft, als Donál sich den Soldaten zuwand, die Hunde kläfften kehlig und griffen ebenfalls an, und dann kamen die Talbewohner mit Heugabeln, Hämmern, Spaten und Pickeln. Sie kamen über die Soldaten wie das stille Meer über die steinige Küste.
Das Feuer im Gasthaus des Glens tauchte den Schankraum in ein wohliges Licht. Keenan war schon angenehm betrunken, während er mit zwei Schürfern des Tals würfelte und plauderte.
Da heute nichts Außergewöhnliches geschehen war, sprach der Bursche von seinem Lieblingsthema: Aisling, der Tochter des Wirtes, auf die er schon seit Jahren ein Auge geworfen hatte.
"Du könntest sie ja auch einfach ansprechen.", sagte einer der Schürfer.
"Machst du doch eh ständig, wenn du Bier bestellst.", fügte der andere hinzu, "Ist doch nichts dabei."
"Frag sie doch einfach, ob sie mit dir beim Herbstfest tanzt.", sagte wieder der erste.
"Bist du wahnsinnig?", schnappte Keenan nach Luft, "Er bringt mich um."
"Wer?", fragte der andere Schürfer.
Keenan nickte knapp zu Bevan, dem Wirt, der neben seiner Tochter stand und einen Holzkrug mit einem karierten Tuch auswischte.
"Ach was! Der wartet doch nur drauf, dass dir endlich mal Eier wachsen und du seine Tochter fragst.", erklärte der erste Schürfer grinsend.
Keenan kaute auf der Unterlippe und schwieg eine Weile.
"Er jagt mir Angst ein.", sagte er schließlich, und obwohl die Freunde allesamt angetrunken waren, wussten sie, dass es nicht mehr um den Wirt ging.
"Mir auch.", gab der erste Schürfer zu.
"Ich meine...", sprach Keenan weiter, "Er ist verrückt, oder?"
"Das stimmt.", sagte der andere Schürfer, "Aber ehrlich, ich bin froh, dass er auf unserer Seite ist."
Dazu konnte nun keiner mehr was sagen. Sie hoben stattdessen ihre Krüge und stießen miteinander auf einen weiteren ereignislosen Tag an.