Der König von Albernia war ein schlanker Mann Anfang 30. Sein blondes Haar war kinnlang, doch es wurde von der Krone elegant nach hinten gehalten. Er trug einen kurzen und gepflegten Bart und reich bestickte Kleider in den Farben seines Hauses: Dunkelblau und Gelb und darauf der sich aufbäumende, gekrönte Löwe.
Ronnel aus dem Hause Gladmore hatte eine seitlich angelehnte Position eingenommen, die es ihm ermöglichte, lange Zeit auf dem Thron zu sitzen, ohne Rückenschmerzen zu bekommen. Wer auch immer dieses Ding gebaut hatte, hatte gewiss nicht Probe gesessen. Nicht lange genug jedenfalls. Sei's drum! Seine Vorväter hatten darauf gesessen. Er würde das auch überleben.
Gerade lauschte er einem ermüdend langen Vortrag über die Sorgen eines Kontors an der Grenze zu Windhaag, die der Besitzer gelöst haben wollte. Oder vielmehr wollte der Mann dreisterweise nur für sich selbst ein paar Freiheiten, die Händler normalerweise nicht hatten. Nur für das Grenzland, verstand sich. Die Regeln im Grenzgebiet nämlich seien anders, behauptete der Mann. Albernisches Recht genüge, wenn Albernier miteinander Geschäfte machten, doch die Leute aus Windhaag hätten zu viele Kniffe in ihrem Gesetz und könnten einen Albernier einfach so übertölpeln. Gerade holte der Mann zu einer neuen Tirade aus, als König Ronnel die Hand hob und ihm gebot, zu schweigen.
"Wenn ich es also recht verstehe,", fasste er zusammen, "wenden die Händler aus Windhaag ihr eigenes Recht an, wenn sie auf albernischem Boden handeln?"
"So ist es, Majestät. Darum erbitte ich Sonderrechte für mein Haus, um..." Ronnel unterbrach ihn.
"Albernisches Recht ist albernisches Recht. Das gilt auch für Leute aus Windhaag."
"Aber Majestät, niemand handelt nach albernischem Recht im Grenzland. Wenn Ihr mir ein Dekret..."
"Niemand hält sich an das Gesetz im Grenzland?", fuhr Ronnel hoch.
"Niemand, Herr!"
"Auch Ihr nicht?"
Der Mann riss ertappt die Augen auf. Es wurde still im Saal.
Es war schließlich Glendan Trevelyan – König Ronnels Seneschall, Freund und Schwager – der das Schweigen brach: "Der König hat Euch eine Frage gestellt."
Der Händler räusperte sich.
"Nun, also... gewiss bin ich stets bemüht... als rechtschaffener Bürger Albernias... die Gesetze..."
Nur ein kleines Schmunzeln schlich sich auf des Königs Gesicht, als er beschloss, den Mann zu erlösen, ehe der sich in die Hosen machte.
"Ich werde Eurem Wunsch nachkommen und etwas verfassen."
Der Händler atmete auf und nahm wieder diese überhebliche Position ein, die nur jene einnehmen konnten, die meinten, einen Sieg gegen einen Einfaltspinsel eingefahren zu haben. Der König wandte sich zu seinem Seneschall, der sogleich ein Pergament hervornahm und notierte.
"Ich erlasse dies: Wir werden jeden Händler für ein Jahr lang doppelt besteuern, der bewiesenermaßen das geltende albernische Handelsrecht gebrochen hat. Es gilt ausnahmslos für alle, die auf albernischem Boden handeln. Ein jeder wird außerdem aufgerufen sein, es der örtlichen Rechtsvertretung zu melden, wenn Handelsrecht gebrochen wird. Für jeden bewiesenen Fall wird eine Belohnung ausgesetzt. Jeder, der einen Bruch des Handelsrechtes meldet und beweisen kann, zahlt im kommenden Jahr nur drei Viertel der üblichen Steuer.
Euch ernenne ich zu meinem Boten, um diese Kunde mit ins Grenzland zu nehmen. Damit werden die Dinge gewiss in Eurem Sinne geregelt sein. Ihr werdet in Begleitung eines Herolds und ein paar Soldaten nach Hause zurückkehren, damit Euch nichts geschieht."
Geld. Händler waren so erstaunlich leicht zu lenken. Es würde mehr Gesetzesbrecher als Verräter geben, also war damit gleich eine kleine Einnahmequelle gewonnen. Ronnel ging es allerdings vor allem darum, dem dreisten Bittsteller den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er würde jetzt als Petze zurückkehren, als derjenige, der der Obrigkeit von den eingespielten Verhältnissen im Grenzland berichtet hatte, woraufhin sich nun alles ändern und unbequem werden würde. Ein Sonderrecht würde dieser Mann ganz sicher nicht bekommen.
Der Händler legte unwillig den Kopf schief, als er all das erfasste, wurde dann rot und schnappte nach Luft.
"Ihr dürft nun gehen.", sagte Ronnel, ehe der Mann erneut zu diskutieren beginnen konnte.
Erst als sich die Türen hinter ihm geschlossen hatten, lachte Ronnel schnaufend und warf Glendan ein Schmunzeln zu. Der jedoch holte ein weiteres Pergament hervor und hob dann geschäftig den Blick. Es gab also noch mehr Arbeit.
"Was noch?", fragte Ronnel und rieb sich die Stirn.
"Ein Mörder.", las Glendan vor, "Eddrick Farnbach. Hat in einem Gasthaus eine Schlägerei angefangen und dabei einen anderen Burschen umgebracht. Angus Belfer."
"Gibt es Zeugen?"
"Ein paar der anderen Gäste. Einer von ihnen klagt jetzt Farnbach an. Finlay Leary. Ein Freund des Toten."
Ronnel gähnte und zuckte mit den Schultern. "Dann ist die Sache eindeutig. Der Henker soll sich ein neues Paar Stiefel verdienen. Lass das diesem Mann... Belfer... zukommen. Ich denke, eine Audienz wird nicht nötig sein."
Der Seneschall nickte und notierte die Entscheidung. Ronnel erhob sich endlich vom Thron und schlenderte zu Glendan hinüber.
"Genug für heute!" Glendan blickte von den Papieren hoch. Ronnel fuhr fort. "Ich bin hungrig. Du gewiss auch. Komm, iss mit mir und meiner Familie."
'Sie besteht zum Großteil ohnehin aus Deiner.', fügte er in Gedanken hinzu.
Der König von Albernia war umringt von Trevelyans.
Er selbst saß an der Stirnseite der Tafel. Rechts von ihm, auf dem Ehrenplatz, saß wie immer seine Gemahlin, Königin Isobel, Tochter von Herzog Ciaran Trevelyan, Schwester von Seneschall Glendan. Neben ihr saßen die königlichen Kinder, die Prinzen Aethel und Uther. An der anderen Stirnseite der Tafel saß heute ihr Onkel Glendan. Links von Ronnel saß seine eigene Mutter Lynn. Seit der Eheschließlung mit Ser Rowan – kurz nach Ronnels Krönung – trug nun auch sie den Namen Trevelyan. Und neben ihr saß Ser Rowan Trevelyan selbst, der nunmehr der Hauptmann der Königsgarde war.
Ein Löwe inmitten von Ziegen. Es könnte weitaus schlimmer sein, fand Ronnel. Haus Gladmore und Haus Trevelyan waren seit Generationen miteinander verwandt und befreundet. Ronnel fühlte sich in ihrem Kreis so sicher wie sonst nirgens. Außerdem stellten die Ziegen einen erheblichen Teil des Staatsschatzes und Ronnel war froh, sie als Verbündete zu haben.
Als sie das Abendessen bereits beendet hatten und nach Wein riefen, verkündete ein Diener, dass ein Beilunker Botenreiter angekommen war und eine dringende Nachricht hatte. Glendan kam seiner Pflicht nach und kümmerte sich darum. Schließlich kam er zum Tisch zurück und überreichte Ronnel ein Schreiben. Der König überflog und zog die Brauen zusammen.
"Es kommen noch mehr Händler?", fragte er niemand Speziellen.
"Nicht irgenwelche Händler.", antwortete Glendan, "Haus Belmonte aus Gareth. Sie bitten um eine Audienz."
Es entging Ronnel nicht, dass Ser Rowan sich nun interessiert aufsetzte.
"Haben sie einen Grund genannt?", wollte der Ritter wissen.
Ronnel überflog noch einmal die Zeilen und schüttelte den Kopf.
"Sie erbitten allerdings eine private Audienz und keine öffentliche im Thronsaal.", las er weiter. "Eingedenk alter Freundschaft mit den Häusern Gladmore und Trevelyan erhoffen sie, dass ich diesem Wunsch nachkomme."
Mutter und Ser Rowan lächelten. Na schön.
"Darf ich fragen, wer alles zu der Reisegesellschaft gehört?", fragte Ser Rowan und zeigte entgegen seiner sonstigen zynischen Art tatsächlich aufrichtiges Interesse. Ronnel warf wieder einen Blick in den Brief.
"Angekündigt sind Katharina (Rowan nickte zufrieden) und ihre beiden Töchter Ramondra und..."
"Estrella!", keuchte Ronnel, als wäre der Name ein Zauberwort, mit dem irgendetwas von dem wieder rückgängig gemacht werden konnte, was geschehen war.
Estrella schlang die Beine um ihn, was dafür sorgte, dass er nur noch tiefer in ihr versank, als er zum Höhepunkt kam. Dann zog sie ihn zu sich herunter, so dass sich ihrer beider Schweiß vermischte, als er schwer atmend auf ihrer Brust zu liegen kam.
Wie, beim Namenlosen, hatte es nur so weit kommen können?
Estrella hatte ihn vom ersten Augenblick an fasziniert, als sie mit ihrer Mutter und Schwester im Schloss angekommen war. Sie war die Jüngste, liebreizend und rein, doch ihre Augen hatten ihn von Anfang an gefesselt. In ihnen lagen Verletzlichkeit und tödliche Kälte zugleich. Ronnel hatte sich von ihr angezogen gefühlt wie von einer wilden Raubkatze.
Der eigentliche Grund des Besuchs war tatsächlich geschäftlicher Natur. Dass die Belontes im großen Spiel um Könige und Kaiser teilnahmen, war allen Anwesende bewusst gewesen. Es ging um Handelsabkommen, die das ganze Kaiserreich betrafen. Haus Belmonte hatte Briefe vom Kaiserhaus zu transportieren und würde natürlich einen gewaltigen Teil vom Kuchen abbekommen, wenn alle Vasallen der Kaiserin zustimmten. Ronnel hatte sich gleich zu Beginn des Gesprächs gelangweilt, und es war allein Estrellas Anwesenheit gewesen, die ihm den Moment erträglich erschienen ließ.
Der König Albernias war Ehemann und Vater, und so gern er auch schönen Frauen nachschaute, war er der Königin doch immer treu gewesen. Doch nur einen Tag nach ihrer Ankunft hatte er sich in Estrella Belmontes Bett wiedergefunden.
"Was tun wir hier?", fragte er schließlich leise, als er neben ihr lag und an die Decke starrte.
"Nach allem, was ich jetzt sagen kann, wisst Ihr ganz genau, was wir hier tun, Majestät.", antwortete sie mit einem frechen Schmunzeln und küsste ihn sanft am Hals.
"Estrella... Ich denke, die Förmlichkeit kannst Du Dir sparen, wenn wir unter uns sind."
"Oh!", sagte sie und fuhr mit dem nackten Fuß zum Bettende, wo schwere Tücher den Blick auf den Raum verdeckten, "Aber Majestät, wir sind nicht unter uns."
Mit einem Ruck zog sie eines der Tücher beiseite. An der gegenüberliegenden Wand saß auf einem gepolsterten Stuhl die Gestalt von Ramondra Belmonte. Sie hatte keusch überschlagene Beine und trank Wein aus einem schweren Kelch. Als sie Ronnels Blick traf, nickte sie, als wäre all das eine ganz normale Begegnung, wie man sie am Hofe hat. Ronnel fuhr erschreckt hoch und bedeckte seine Blöße mit einem Kissen.
"Götter! Wart Ihr die ganze Zeit hier?", fragte er Ramondra.
Sie nickte. "Die ganze Zeit, Majestät."
Estrella schlang sich eine Decke um den nackten Körper und schlenderte zu ihrer Schwester. Dort angekommen, nahm sie ihr den Kelch aus der Hand und trank. Ronnel kniff die Augen zusammen.
"Was hat das zu bedeuten?"
Ramondra blickte ihn ernst an. Estrella ließ ein glockenhelles Lachen hören.
"Was ist so lustig?", fragte Ronnel.
"Ich stelle mir gerade vor, was Glendan Trevelyan tut, wenn er erfährt, dass Ihr seine Schwester betrogen habt. Er ist nicht nur Euer Diener, sondern auch Euer Freund, nicht wahr?"
Ronnel starrte die beiden Frauen entgeistert an und sagte nichts. Estrella fuhr fort.
"So etwas kann eine Freundschaft zerstören. Selbst die zwischen zwei Häusern. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn die Löwen und die Ziegen sich zerstreiten. Mit welchem Geld wollt Ihr dann Eure Ausgaben decken?"
Ronnels Gesicht wurde hart.
"Was wollt Ihr? Geld? Handelsprivilegien?"
"Nein, Majestät. Was wir wollen, ist viel geringer.", antwortet nun Ramondra.
"Und was?"
"In Eurem Kerker wartet ein Mörder auf seine Hinrichtung.", fuhr Ramondra fort, "Wir wollen, dass Ihr ihn laufen lasst."
Wieder hob Ronnel entgeistert den Blick. "Was?"
"Eddrick Farnbach.", fuhr Ramondra fort.
Ronnel musste einen Augenblick nachdenken, ehe ihm einfiel, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Dann schüttelte er ungläubig den Kopf.
"All das... Ihr erpresst einen König, um einen Trunkenbold zu retten?"
"Familie.", sagte Ramondra seufzend. "Die kann man sich nicht aussuchen."
Ronnel rieb sich die Schläfen und dachte nach. Estrella setzte sich wieder auf das Bett und strich sanft über sein Haar.
"Das hier endet entweder mit der Befreiung eines Trinkers oder dem Untergang einer Dynastie. Es liegt in Eurer Hand, zu entscheiden, was das geringere Übel ist, Majestät.", sagte sie so sanft, als würde sie ein Liebesgedicht aufsagen. Ronnel hob nun den Blick und begegnete ihrem. Jetzt konnte er keine Verletzlichkeit mehr darin entdecken. Allein die Kälte war geblieben.
"Ihr hattet das von Anfang an im Sinn, nicht wahr? Nur deswegen seid Ihr hergekommen.", zischte Ronnel.
"Was tun wir nicht alles für die, die wir lieben?", fügte Estrella hinzu, "Dachtet Ihr wirklich, es wären drei Belmontes vonnöten, um ein Handelsabkommen zu schließen?"
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