In Time
14.06.2013
Änn
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Das Piepen des Tastenfeldes erklang. Dann wurde eine Karte durch das Lesegerät gezogen und die Tür öffnete sich. Im Rahmen stand eine schlanke Frau mit langen dunklen Haaren. Begleitet von einem Wärter, ging sie den Gang entlang. Links und rechts reihten sich vergitterte Türen auf, hinter denen man die Gefangenen sehen konnte. Dann erreichten sie die Zelle. „Sie haben fünf Minuten.“, sagte der Wärter, als er die Tür öffnete. Am Boden, mit dem Rücken zur Wand, saß eine Mann mit gesenktem Kopf. „Ich habe gehört, dass es dir hier drinnen nicht besonders gut geht.“, sagte sie. „Tja, das ist wohl das Risiko, das man eingeht, wenn man sich mit bestimmten Leuten anlegt.“ Sie hockte sich vor ihn und legte ein schiefes Grinsen auf. „Ich habe auch gehört, dass es eine ziemliche Verschwendung wäre, ein Talent wie dich hier zu lassen und zu warten bis die dich umbringen.“ Langsam hob er den Kopf. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Ein Auge war zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt und das Gesicht überseht mit Blutergüssen. Es war gar nicht so einfach den jungen Asiaten von dem Foto wiederzuerkennen. „Was soll das heißen?“ Sie lächelte. „Heute ist dein Glückstag. Ich bin hier um dich rauszuholen. Es gibt da jemanden, der dich sehr gerne kennenlernen würde.“ Sie reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. „Mein Name ist Oksana.“


Ihre erste Begegnung vor acht Jahren. Traurig musste Tyler daran zurückdenken, während er aus der Dusche stieg. Und nun würde er sich ihren letzten Willen anhören. Langsam zog er sich an und machte sich auf den Weg. Es war für ihn immer noch unfassbar, dass diese Frau nun tot war.


„Was soll der Scheiß eigentlich? Ich hab dir gesagt, dass die hinter dir her sind und du verbringst deine Zeit ausgerechnet hier und pumpst dich mit diesem Mist voll?“ Sie griff ihn hart am Arm und zog ihn hoch. „Los, raus hier, sofort!“ Es fiel ihm schwer sie richtig zu fixieren. „Es kann dir doch scheißegal sein, was ich mit meinem Leben anstelle.“, antwortete er undeutlich. „Hör mal, ich weiß, dass du `ne Menge durchgemacht hast und du immer noch mies drauf bist deswegen. Aber ich hab dich nicht aus dem Knast geholt, damit du im nächsten Moment auf offener Straße erschossen wirst, du dummer Junge!“ Tyler ließ sich schwerfällig zurück in den Stuhl sinken. „Weißt du, es ist einfach ein verdammt gutes Gefühl, wenn deine Familie dich verstößt, weil du ein kleiner, krimineller Arschficker bist. Es ist auch total super, wenn der Typ mit dem du schläfst, der Shíguāng Triade steckt, dass du ihnen Zeit gestohlen hast und du deshalb jetzt auf ihrer Todesliste stehst. Und weil es so ein verdammt gutes Gefühl ist, bin ich hier. Und jetzt lass' mich einfach in Ruhe.“ Wieder zog sie ihn mit überraschender Kraft nach oben und schob ihn Richtung Ausgang. „Du kannst dir abschminken, dass deine kleine Rede mich irgendwie beeindruckt. Seit Wochen höre ich nichts anderes. Gott, diese Selbstmitleidsgeheule geht mir so was von auf die Nerven! Ich hab dir gesagt, als ich dich aus dem Knast geholt habe, dass ich mich um dich kümmern werde, komme was da wolle. Und wenn das bedeutet, dass ich dich zu deinem Glück zwingen muss, du kleiner Wichser, dann werde ich das tun.“ Mit diesen Worten verließen sie den „Hunting Dragon“.


Die Monate danach waren die Hölle gewesen. Oksana hatte sich mit liebevoller Strenge um ihn gekümmert. Als alles durchgestanden war, hatte sie ihn zu Raymond gebracht, damit er die Daten auf seinem Chip ändert. Sie war die einzige Frau der Welt gewesen, mit der Ray einigermaßen normal reden konnte. Und dann war er Isabella Salamanca vorgestellt worden. Der Frau, die soviel Interesse an ihm gehabt hatte, dass sie ihn mit ihren Beziehungen aus dem Gefängnis geholt hatte.


Als er im Büro jetzt auf sie traf, schwiegen sie beide. Zu Vieles hatte ihr Verhältnis in den letzten zwei Monaten verändert. Es fühlte sich nicht mehr wie Familie an. Er setzte sich und wartete auf den Notar.


„Du wirkst etwas nervös.“ Sie tippte ihn von hinten an die Schulter. „Nun ja, man trifft nicht jeden Tag den Besitzer eines Medienimperiums.“ „Noch gehört Champell Enterprises seinem Vater, aber binde ihm das ja nicht auf die Nase.“ Oksana zwinkerte. Sie trug ein elegantes, rotes Kleid. „Du siehst toll aus.“ Sie lächelte. „Du auch, aber man sagt ja auch immer von euch Homos, dass ihr es klamottentechnisch drauf habt.“ Er runzelte die Stirn. „Ja… das sagt man wohl.“ Dann bot er ihr den Arm an und sie stiegen die Treppe herunter ins Restaurant. Ein Ober führte sie zu ihrem Platz, an dem Stanley Champell bereits wartete. Er stand auf und reichte ihnen die Hand. „Ms. Solkolowa und das wird ihr Geschäftspartner sein?“ „Henry Won“, antwortete Tyler, als er ihm die Hand schüttelte. „Setzen Sie sich doch bitte. Ich war so frei, bereits den ersten Gang zu bestellen. Ich hoffe Meeresfrüchte sind für Sie in Ordnung. Dazu gibt es einen 2001er Newton Chardonay.“ Stan Champell ließ bei niemand den Gedanken aufkommen, dass Zeit für ihn eine Rolle spielte. In den nächsten zwei Stunden bestellte er Gerichte, von der selbst Tylers Vater früher in ehrfurchtsvollem Ton gesprochen hätte. Dabei machte er ungezwungene Konversation, die nicht im Ansatz vermuten ließ, weshalb seine beiden Gäste in Wirklichkeit hier waren. Erst als sie das Dessert hinter sich hatten, erhob er sich. „Würden sie mich noch auf einen Drink im Hinterzimmer begleiten?“ Oksana reichte ihm die Hand. „Sehr gern.“
Sie betraten einen holzvertäfelten Raum, der mit luxuriösen Möbeln ausgestattet war. „Ich hoffe, Sie haben die Ware bei sich?“ Zur Antwort holte Oksana ein kleines Holzkästchen aus ihrer Handtasche. „Natürlich. Überzeugen Sie sich doch bitte davon, dass sie im einwandfreien Zustand ist.“ Vorsichtig öffnete Champell die Box und hob den Jadedrachen an die Augen. „Und Hua Jin hat auf jeden Fall mitbekommen, dass er gestohlen wurde?“ Bei einem Wert von 20 Jahren, sollte man eigentlich  mitbekommen, dass er weg ist, dachte Tyler. Aber er antwortete: „Wir haben dafür gesorgt, dass sein Alarmsystem mit zeitlicher Verzögerung angesprungen ist.“ Champell nickte. „Ausgezeichnet. Wirklich gute Arbeit.“ Er winkte einen der Kellner heran, der sofort in Ausübung seiner Pflicht den Raum verließ. Kurz darauf betrat ein anderer Mann im Anzug mit einem Koffer das Zimmer. „Sie werden feststellen, dass ich die Zeit genauso aufgeteilt habe, wie es Ihre Bedingung war. Somit habe ich meinen Teil der Abmachung ebenfalls erfüllt.“ Oksana öffnete den Koffer und nickte nach einer Weile. Dann schloss sie ihn und stellte ihn neben sich auf dem Boden. Wie auf den Punkt genau betrat der Kellner erneut den Raum, mit einer Flasche Champagner und drei Gläsern. „Ich finde, wir sollten auf diesen erfolgreichen Geschäftsabschluss anstoßen.“ Champell reichte Oksana ein volles Glas, bevor er sich an Tyler wandte. Als ihre Gläser aufeinander klirrten, verweilte Champells Blick etwas länger auf ihm, als es normal gewesen wäre. „Ich werden heute Abend eine kleine Soiree in meinem Haus in Beverly Hills veranstalten. Ich würde mich freuen, wenn Sie auch vorbei schauen würden.“ „Oh, unser Zeitplan ist natürlich etwas gedrängt. Aber wir werden sehen was sich machen lässt.“, antwortete Oksana. Champell erhob sich. „Dann hoffe ich, dass wir uns noch sehen werden.“ Er gab Oksana einen Handkuss. Dann warf er Tyler ein unglaublich joviales Lächel zu und schüttelte ihm die Hand. „Mr. Won, es hat mich sehr gefreut.“ Als beide alleine im Zimmer waren, drehte sich Tyler zu Oksana um. „Warum wolltest du eigentlich, dass ich mitkomme? Du bist doch sehr gut alleine klar gekommen.“ „Ich mag halt einfach deine Gesellschaft. Und Champell offensichtlich auch.“ Er runzelte die Stirn. „Der machte auf mich eigentlich nicht den Eindruck als wäre ich für ihn interessant. Berichten die Medien nicht immer so gerne von seinen Frauengeschichten?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab auch gehört, dass er auf Asiaten steht. Vielleicht ist ihm das Geschlecht ja egal.“ Tyler schloss kurz die Augen und dachte nach. „Du denkst also, dass ich mich auf dieser Party sehen lassen sollte?“ Sie knipste ihr Megawatt Lächeln an. „Wer weiß, vielleicht nützt dir der Kontakt mit Champell eines Tages“.


„Mr. Cheng vermache ich mein gesamtes Vermögen, aufgeteilt auf drei Konten“, verlas der kleine Mann im Anzug. „Außerdem hinterlasse ich ihm mein Bankschließfach samt Inhalt, das sich mit dem beiliegenden Schlüssel öffnen lässt.“ Ihr Porta, dachte Tyler. Das hatte er von ihr gelernt. Hinterlasse deinen Porta immer jemanden, wenn du nicht weißt, wie ein Auftrag ausgehen wird. Der Notar schob einen Umschlag über den Tisch. „Zu allerletzt möchte ich noch, dass Mr. Cheng, den diesen Unterlagen beigelegten Umschlag erhält. Und damit endet Ms. Orlowas letzter Wille. “ Er stand auf und sortierte seine Unterlagen. Es wurde geredet, doch Tyler konnte nur auf den Umschlag starren. „Hinterlass' nie etwas Handschriftliches.“, hatte sie einmal zu ihm gesagt. Ordentliche, kleine Buchstaben standen dort: TYLER. So sah also das Ende aus.
Fräulein Fu (Gast)
14.06.2013 22:29
Tja, Tyler, FAMILIE kann einen ganz schön überraschen, was? ;)
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