Die Mahlzeit, die er am Abend vor seiner Hinrichtung bekam, war besser als gedacht. Leider war sie aber auch schlechter, als man es sich für seine letzte Mahlzeit gewünscht hätte. Wenigstens hatte man ihm die Fesseln vorübergehend gelöst und ihn allein gelassen, was ihm ein wenig Zeit verschaffte. Er fand Papier und Tinte wie erwartet unter der Schlafpritsche. Die erste Nachricht war kurz. Nicht mehr als eine Anweisung und zwei Informationen. Für die Zweite benötigte er mehr Zeit. Mehrmals hielt er beim Schreiben inne und rief sich die Einzelheiten im Haus des Gouverneurs ins Gedächtnis, um den Weg in sein Arbeitszimmer möglichst präzise zu beschreiben. Der Abschluss fiel ihm am schwersten. In seiner jetzigen Situation war dieser Teil wie geschaffen für Abschiedsworte. Etwas Hoffnungsvolles, woran man sich klammern konnte nach dem Ende. Doch für Damián, für den der Tod immer die einschüchternste und endgültigste Konsequenz des Lebens gewesen war, gab es einfach keine Worte, die für einen solchen Abschied geeignet waren. Also entschied er sich nur für die drei entscheidenden.
Als kurze Zeit später die Reste des Mahls abgeholt wurden, lag alles sicher unter dem Teller versteckt. Über Wylan, Nevios jüngsten Bruder, würde es den Weg nach draußen in die richtigen Hände finden.
Der Besuch kam kurz danach. Die Gestalt war in einen dunklen Umhang gehüllt, so dass man ihr Gesicht nicht erkannte. „Ihr habt Zeit bis zum Wachwechsel.“ Damit ließ die Wache sie allein. „Was zur Hölle geht hier vor?“, zischte die Frauenstimme unter den Stoffen, sobald er weg war. „Wie es aussieht bin ich zum Tode verurteilt.“ „Das war aber anders geplant.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das könnte man zumindest annehmen. Andererseits überrascht es mich wirklich, dass du in solch einer Situation hierher kommst und dich mit mir in Verbindung bringen lässt. Hatte ich dir nicht gesagt, dass wir uns unter allen Umständen erst zum verabredeten Zeitpunkt im Haus treffen?“ Sie seufzte. Damián rutsche ein wenig auf dem Stuhl herum, um besser im Halbdunkel sehen zu können. „Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen“, antwortete sie. Für einen kurzen Moment erhaschte er einen Blick auf ihr besorgtes Gesicht. „Du musst dir keine Gedanken machen. Das hier ist alles vorübergehend. Es ist sogar Teil des Plans. Wir kümmern uns um deinen Auftrag. Dafür werden wir schließlich bezahlt.“ Da war das verächtliche Schnauben, das wesentlich besser zu ihr passte. „Wir? Deine kleine Freundin erzählt überall herum, dass sie mit dir fertig ist.“ Damián grinste breit und beugte sich verschwörerisch zu Arisa Ravensa vor. „Sag Liebes, kennst du dich mit Zaubertricks aus?“
Der Garten war mit gerade genug Fackeln ausgeleuchtet, dass es ausreichend verschweigende Schatten dazwischen gab. In einiger Entfernung spielte hochtrabende Musik, aber seine eigene Stimmung war ausgelassen. „Du solltest viel öfter Kleider tragen“, sagte er breit grinsend. Tess runzelte skeptisch die Stirn. „Auf See ist das mehr als unpraktisch.“ Eine Gruppe ziemlich angetrunkener Gäste nährte sich ihnen auf dem Pfad. Damián zog Tess ein wenig tiefer in die Dunkelheit. Dicht an sie gepresst flüsterte er „Auf herrschaftlichen Hochzeiten passt es aber sehr gut.“ Eine Hand glitt ihre Wirbelsäule hinab, während er die andere um ihre Hüfte gelegt hatte. „Und ich für meinen Teil, kann es gar nicht erwarten, bis wir diesen lästigen Teil des Abends hinter uns gebracht haben und ich dir meine Meinung zu deiner Abendgarderobe in allen Einzelheiten darlegen kann. Ich bin mir nämlich sicher, dass Kleider nicht in allen Situationen unpraktisch sind.“ Nun schmunzelte sie. „Das wird sich zeigen.“
Langsam bewegten sie sich weiter zum Zentrum des Geschehens. Die Musiker im Pavillon hatten gerade ein Stück beendet und die Gäste sortierten sich zu einem neuen, sehr förmlichen Tanz. Kritisch fiel sein Blick auf das Brautpaar. Die Tochter des Gouverneurs war alles, was er nach den lebhaften Beschreibungen von Tess und Nolan erwartet hatte und schlimmer. Ihr Ehemann hingegen war eher von der unaufdringlichen Sorte. Jemand, der seine Ziele für sich behielt, sie aber zweifellos mit großem Ehrgeiz verfolgte. Es waren auch andere bekannte Gesichter unter den Hochzeitsgästen. Ein Großteil der Elite von Grangor stattete dem Haus der Glückseligkeit regelmäßige Besuche ab, eine Tatsache, die ihnen Zugang zu dieser Veranstaltung verschafft hatte. Als das Stück endete, erhob sich Menderra von seinem Platz, um mit einer schwülstigen Rede über Verantwortung, jung vermähltes Glück, Hoffnung und die Zukunft alle zu langweilen. Erst beim letzteren Punkt merkte man eine Anspannung durch die Menge der Besucher ziehen, denn jeder rechnete mit dem baldigen Rücktritt des alten Mannes.
„Er wird sein Amt nicht niederlegen“, hatte ihnen Najah erst vor wenigen Stunden eröffnet. „Alle meine Quellen sagen, dass ihn die Hochzeitsvorbereitungen regelrecht belebt haben. Als hätte er jetzt, wo seine Tochter endlich unter der Haube ist, endlich wieder Energie, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern. Mynah sagte sogar, dass er wohl warten wird, bis er sich eines Erbens sicher sein kann.“ Diese Information würde den König von Weiden vermutlich nicht gerade erfreuen.
Der Gouverneur endete ohne überraschende Ankündigungen, dafür aber mit überschwänglicher Freude für den nächsten Programmpunkt: einen berühmten Zauberkünstler aus Caradečs Heimat. Damián hatte den Trick in der Erklärung nicht ganz verstanden, aber eigentlich war auch nur wichtig, dass die Eheleute getrennt in Zimmern warten würden, während das Publikum eingeweiht wurde. „Für deine Mühen “, sagte Damián, als er dem Wächter an der Tür eine Münze zusteckte und sich damit Zugang zum zweitwichtigsten Mann von Grangor erkaufte. Ihr Auftauchen führte zu Verwirrung. „Soll ich schon wieder zurück?“ Tess schüttelte den Kopf. „Nein. Wir sind Freunde der Ziege und überbringen die inoffiziellen Hochzeitsgeschenke.“ Damián überreichte das kleine Holzkästchen, das sie in Brabak an Bord genommen hatten. Caradečs Blick zeigte Erleichterung. „Die letzte Nachricht kam vor Monaten. Und inzwischen gilt es umzudenken“ Ein wissendes Nicken. „Wir haben bereits von Eurem Problem mit dem Gouverneur gehört. Gibt es sonst noch etwas, was wir weitergeben sollen?“ In knappen Worten formulierte er seine Nachricht. „Bleibt ihr noch? Ich habe gehört, dieser Zaubertrick soll ziemlich spektakulär sein.“ Tess schüttelte den Kopf. „Da ich schon das VERGNÜGEN mit deiner Frau hatte... würde es nur alles kompliziert machen.“ Damián setzte nach. „Wenn Ihr unsere Hilfe braucht, sendet eine Nachricht ins Haus der Glückseligkeit. Den Weg dorthin kennt Ihr ohnehin.“ Er zwinkerte und ohne ein weiteres Wort verschwanden sie. Auf dem Weg nach draußen führten sie ihren ganz eigenen Trick auf, bei dem ein wild flirtendes Pärchen in die Unsichtbarkeit der Schatten tauchte.
Arisa starrte ihn offen an. „Wie bitte?“ „Kennst du dich mit Zaubertricks aus?“, wiederholte er. Ihr Blick spiegelte eher Wut als Verständnis, also setze er zu einer Erklärung an. „ In einem Zaubertrick kommt es nicht darauf an, eine fantastische Illusion zu erzeugen, sondern die Leute dazu zu bringen, im entscheidenden Moment woanders hinzuschauen. Genauso funktioniert ein vernünftiger Diebstahl. Und glaub mir, wenn der Schwerverbrecher, der den Gouverneur angegriffen hat morgen früh verurteilt wird, wird die gesamte Stadt woanders hinschauen.“ Zweifel lag immer noch in der Stille, die darauf entstand. „Immer diese Skepsis, fast wie bei deinem Ehemaligem-Nicht-Ehemann. Du wirst deine Dokumente bekommen, mit denen du die Weltherrschaft, oder was auch immer du nachjagst, erreichen kannst. Das verspreche ich.“ Sie nickte und erhob sich. „Wenn das hier alles tatsächlich geplant ist, bin ich gespannt, wie du aus der Sache wieder heraus kommst.“ „Das bin ich auch“, flüsterte er, aber zu diesem Zeitpunkt war sie schon verschwunden.
„Du magst wirklich diesen ganzen Zauberkram, oder?“ Damián strich mit den Fingern über die Titel auf den Buchrücken. Rodrigos Frage stand immer noch zwischen ihnen im Raum, aber Damián hatte nicht vor, sie gleich zu beantworten. „Was ist nun?“, fragte der Händler schließlich ungeduldig. Seufzend drehte Damián sich zu ihm um. „Es ist wirklich unglaublich, dass man nicht einmal mit guten Nachrichten zu dir kommen kann, die man feiern möchte. Nein! Ein Belmonte muss selbst dann noch über Geschäftliches reden!“ Grummelnd setzte er sich Rodrigo gegenüber und machte eine wedelnde Handbewegung. „Na erzähl schon, was du auf dem Herzen hast.“ Der Händler legte routiniert seine Fingerspitzen aneinander und fixierte ihn. „Ich habe einen Geschäftspartner, der mir schon seit ein paar Jahren Probleme bereitet. Ich habe den Verdacht, dass er in seine eigene Tasche arbeitet, statt für mich. Leider ist es äußerst schwer an ihn heranzukommen und das zu beweisen. Ich weiß aber, dass seine Frau Liyenne die meiste Zeit des Jahres in Grangor verbringt und wie man hört sehr einsam ist.“ Damián schnalzte in gespielter Missbilligung mit der Zunge „Ts ts ts, Rordrigo Belmonte will also von mir, dass ich diese arme Frau zum Ehebruch verleite, um ihr Geheimnisse zu entlocken? Obwohl ich selbst fest liiert bin.... Das wäre in Anbetracht der Umstände etwas seltsam. Womit ich gerne wieder zurück auf den Grund für mein Hiersein kommen würde.“ Er fischte eine Flasche aus seinem Gepäck und stellte sie schwungvoll auf den Tisch. Rodrigo erhob den Zeigefinger. „Einen Moment noch. Ich brauche dringend einen Beweis für Elgrens Verrat. Ich bin sicher, dass er sich in seinen Unterlagen befindet und wir über seine Frau an diese kommen. Es ist mir egal, wie genau du es anstellst und die Bezahlung würde natürlich stimmen.“ Damián seufzte wieder und entkorkte die Flasche, um erst Rodrigo und dann sich einzuschenken. „Fein. Ich mach es. Allerdings gilt diese Zusage unter Vorbehalt, denn Tess hat da auch noch ein Wort mitzureden... Dafür wirst du anhören, was ich zu sagen habe und meine Bitte, die darauf folgt widerstandslos akzeptieren! Und, in Anbetracht der Tatsache, dass mein Schiff bald wieder unter dem Namen Katharina in See stechen wird, finde ich, du solltest die paar Reparaturen zahlen, die im Augenblick daran gemacht werden.“ Rodrigo hob an noch etwas zu erwidern, doch Damián hob seinen Kelch. „Nein. Keine weiteren Geschäfte. Schließlich ist das hier ein wunderbarer Tropfen, der nur darauf wartet wegen wunderbaren Ereignissen geleert zu werden.“
Bis zu diesem Punkt hatte jeder Teil des Planes ineinandergegriffen, wie bei einer gut geölten Maschine. In den einsamen Stunden in seiner Zelle hatte er versucht, sich einzureden, dass auch alles andere kommen würde, wie geplant. Doch als das metallische Kratzen des Schlosses seine rastlosen Gedanken beendete, war er sich immer noch nicht ganz sicher, ob er das selbst glaubte. Natürlich setzte er trotzdem ein selbstsicheres Lächeln auf, als man ihn nach draußen befördertet. Er hatte das Spiel in den letzten Jahren gelernt, falls er es als Sohn einer Hure nicht schon immer gekannt hatte.
Man hatte den Galgen direkt auf dem Markt aufgebaut, als Warnung für alle kriminellen Elemente der Stadt. Es war eine ungewöhnlich große Menge, die das Spektakel verfolgte. Den Wachen war es ebenso aufgefallen, wie ihm selbst. Es waren mehtr von ihnen da, als üblich um alles unter Kontrolle zu behalten. Und doch scheiterten sie dabei. Damián sah es an dem guten Dutzend Leuten seiner eigenen Crew, die sich unters Volk gemischt hatten. Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung hatte er das Gefühl tatsächlich im Vorteil zu sein. Großspurig, fast als würde er das Sagen in dieser Stadt haben, schritt er die Stufen hinauf. Oben auf der Tribüne standen die Würdenträger. Gouverneur Menderra trug ein breites Halstuch und wirkte äußert blass, als Damián an ihm vorbei geführt wurde. Neben ihm stand seine Tochter in einer Monstrosität von Kleid. Ihr Ehemann war ruhig und gefasst, doch Damián entging nicht, dass die Fingerknöchel seiner geschlossenen Fäuste weiß vor Anspannung waren. Mit leichter Gewalt, die ihm das Grinsen aus dem Gesicht wischen sollte, wurde er zur Verbeugung gezwungen. Aber als der Henker seine kleine Rede begann, suchten Damiáns Augen die Menge ab. Wie üblich bei derartigen Anlässen hatten sich vor allem die Armen der Stadt versammelt. Bettlerjungen, einfache Fischer, Marktschreier, Handwerker, Matrosen und Huren... auffällig viele Huren. Viele der Gesichter kannte er persönlich und sie alle kannten die Wahrheit. Nicht über seine Verbrechen, die man gerade verkündete. Über ihn selbst. Er war nicht irgendein gesichtsloser Verbrecher. Er war Damián – ein Kind dieser Stadt. Bastard von Grangor. Dem Gouverneur entging nicht, dass die üblichen Buhrufe und Beschimpfungen für einen Kriminellen dieses Kalibers fast zur Gänze ausgeblieben waren, sondern die Menge diesem Piraten fast so etwas wie Sympathie entgegenbrachte. Vereinzelt hörte man sogar ein paar Frauen laut Seufzen. Und dort stand sie, inmitten der sich bewegenden Menschen wie ein unbeweglicher Felsen und starrte zu ihm hoch. Sie seufzte nicht. Zeigte eigentlich gar keine Regung, bis er sie anlächelte. Dann breitete sich auch ein Lächeln über ihr Gesicht, nahezu ein Zwilling seines eigenen. In dem kurzem Moment, bevor man die Falltür unter ihm öffnete, begann seine Schwester ihre Kommandos zu brüllen.
„Du weißt überraschend gut, wie man eine Bande Kinder bändigt.“ Er sah zu seiner Schwester auf, die sich während seines Liedes neben ihn gestellt hatte. Beeindruckt blickte sie sich um. Tatsächlich war schon ein Großteil der Kleinen eingeschlummert und der raschelnde Rest gab sich alle Mühe, nicht negativ aufzufallen. Damián erhob sich und verließ mit einem letzten warnenden Finger auf den Lippen den Raum. „Glaub mir, ein Schiff voller Piraten im Zaum zu halten ist deutlich schwieriger. Das hier macht doch Spaß.“ Elena runzelte ablehnend die Stirn, aber inzwischen ersparte seine Schwester ihm ihre Meinung dazu, wie er sein Leben lebte. Dazu profitierte sie zu sehr davon. Stattdessen sagte sie: „Wenn es so sehr Spaß macht, dann solltest Tess und du vielleicht endlich auch mal Nachwuchs in die Welt setzen." Er seufzte über Elenas Lieblingsthema, mit dem sie ihm in letzter Zeit immer häufiger traktierte. Die übliche Antwort, dass ihr Leben nicht gerade ein gutes Umfeld für Kinder war, funktionierten bei ihr nicht. Also beließ er es bei: „Dein Wunsch Tante zu werden ist vermerkt und wird bestimmt irgendwann in Erfüllung gehen.“ Elena lächelte triumphierend und schritt durch den großen Lagerraum voran. Es herrschte ein buntes Treiben aus mehreren Dutzend Menschen, die beieinander saßen und redeten oder würfelten. Einige hatten sich auf Deckenlagern für ein paar Stunden Schlaf zusammengerollt und wieder andere löffelten gierig Schüsseln mit Suppe.
Elenas Büro am anderen Ende war voll von Pflanzen. Ein kleiner Wald aus lebenden und getrocknete Exemplaren, die von Decke und Wänden hängend darauf warteten zu Medizin verarbeitet zu werden. In diesem Chaos wirkte der Tisch mit den Stapeln von Papier fast wie ein Fremdkörper. Skeptisch zog Damián eins aus dem Stapel und betrachtete es kritisch. „Dann beginnen wir mal mit dem wirklich spaßigen Teil des Abends.“
Er hatte das Lagerhaus am Hafen vor ein paar Jahren erworben, mit dem Ziel Straßenkindern einen Platz zum Schlafen zu geben. Einen Ort an dem man heilkundliche Hilfe bekam und ab und zu was zu Beißen. Doch die Sache hatte unter Leitung seiner Schwester schnell ein Eigenleben entwickelt. Inzwischen waren es nicht allein Kinder, die hier ein und ausgingen. Alle Ärmsten der Armen wussten, dass hier der Ort war, an dem sie Hilfe bekamen. Die Buchführung für einen solchen Ort, der selbst keinen messbaren Gewinn abwarf war natürlich eine ermüdende Sache. Sein Anteil an Nolans Jahreszahlung floss zur Gänze in diesen Ort. Der Rest war eine Mischung aus Einnahmen aus dem Hurenhaus und seiner Anteile von Prisen. Doch seiner Meinung nach lohnte sich der Aufwand. Katharinas Belohnung für die Hilfe bei der Eroberung von Burg Carnaby hatte ihm damals die Augen geöffnet. Manchmal war es tausendmal wertvoller bei bestimmten Leuten einen Gefallen gut zu haben, als alles Gold der Welt. Und dafür, dass die Leute wussten, wem sie das hier zu verdanken hatten, sorgte seine Schwester sehr gut. Außerdem war „Die Kolonie“, wie dieser Ort hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, auf ihre Art und Weise eine ebenso gute Informationsquelle wie das „Haus der Glückseligkeit“. Die Bettler, Tagelöhner und Hilfsarbeiter bekamen Ding in der Stadt und im Hafen mit, für die man sich sonst lange in Tavernen umhören musste. „Ich werde morgen ein paar Leute zu den Docks mitnehmen“, sagte er, als er mit einem schwungvollen Stich seine Berechnungen beendete. „Es sind auch für hier ein paar Waren dabei. Und vielleicht erweist sich ja jemand als nützlich in den Tauen, ich brauch neue Matrosen.“ Elena nickte müde. Als er sich erhob, zog er schweren Herzens den Geldbeutel hervor. Mit einem Blick auf die Papiere und einem tiefen Seufzer stellte er den Beutel auf dem Tisch ab, ohne etwas herauszunehmen. Es würde sich eines Tages auszahlen.
In dem Moment, als der Henker die Hand an den Hebel legte, passierten mehre Dinge gleichzeitig. Erstens: Laute Protestrufe erhoben sich unter den Zuschauern. Zweitens: Eine Axt flog von irgendwo aus dem Publikum direkt auf Damian zu. Drittens: In Teil der Menge drängte sich direkt vor dem Podest zusammen und zog die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich. Viertens: Gouverneur Menderra war abgelenkt, weil verdorbenes Obst mitten in seinem Gesicht landete, dass den Buhrufen Nachdruck verliehen sollte.
Die Falltür öffnete sich und Hayas beherzt geworfenes Beil durchtrennte mit zielsicherer Präzession den Strick, an dem Damians Leben hing. Er landete federnd auf allen Vieren unter dem Podest und rollte sich zu Seite ab. Gerade als die Wachen begannen, die Situation zu überblicken, war er schon in dem Wald von Beinen verschwunden, der sich gegen das Holzgerüst drängte. „Der Bastard versucht zu fliehen!“, hob der Kommandant zu einem Brüllen an. „Ergreift ihn!“ Der Ruf ging fast gänzlich in dem vielstimmigen Geschrei auf dem Platz unter. Bei weitem eindrucksvoller war das schrille Gekreische der Gouverneurstochter, das panisch über allem lag.
Damian fand Maljen, der ihm einen ihm einen Umhang überwarf, um sein Gesicht zu verhüllen. Er erhob sich und blickte sich um. Die meisten Wächter hatten inzwischen alle Hände voll zu tun, die hohen Herrschaften von der tobende Menge fernzuhalten und zu schützen. Doch der Rest der Garde war nicht untätig und gab sein bestes alle Fluchtwege vom Platz dicht zu machen und den Flüchtigen aufzuhalten. Nur hatten sie dabei nicht mit seinen Leuten gerechnet. Genau wie in seinem Brief befohlen, waren an den entschiedenen Punkten Kämpfe ausgebrochen und verlangten lautstark nach Aufmerksamkeit.
Kritisch blickte Damián an den Ketten um seine Handgelenke herunter, während sie sich durch die Leute schoben. Stumm warf er Maljen einen Blick zu. Als hätte er einen Befehl bekommen, drückte der seinem Kapitän den Säbel in die Hand. Die Menge um sie herum hatte sich zu einem wütenden Mob hochgeschaukelt, dessen Emotionen in stetigen Wellen gegen Tribüne und Wächter schwappte. Mit einem Blick über die Schulter sah er gerade noch einen kreidebleichen Gouverneur, der unter eisernen Willen von seinem Kommandanten aus der Gefahrenzone eskortiert wurde.
Maljen und er erreichten den Zugang zur Fleischergasse. Eine Wache und die Menge. Damián zog die Kapuze ein wenig tiefer und straffte sich. Fast im Einklang mit dem stampfenden Rhythmus der Menschen um sich herum traf seine Klinge auf Fleisch und verließ es wieder. Er verlangsamte seine Schritte nicht, denn er wusste, dass sein Quartiermeister sich um den Rest kümmern würde. Er bog um die Ecke, als ein Ruft erschalle. „Da ist der verdammte Mistkerl!“ Wachen kamen aus der Querstraße auf ihn zu gerannt. Er wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung.
Sie erwischen ihn fünf Gassen weiter. Säbel voran stürzte sich Damián auf den Kräftigeren der Beiden. Mit dem Überraschungsmoment auf seiner Seite traf der Stoß auf Leder, Haut und Muskeln. Drehung vor der Waffe des Gegners, dann Schritt zurück, um mit der Bewegung den Zweiten zu erwischen. Die Klingen kreuzten sich. Damián griff mit der linken Hand in die Waffe des Anderen und drückte sie zur Seite. Sein Gegner geriet ins Schwanken und sein Schwert segelte klimpernd über das Pflaster. Bevor Damián es nehmen konnte, wurde er getroffen. Ein Schnitt am Arm von Wache Nummer eins. Er wirbelte herum und holte zum Gegenstoß aus. Die Klinge fraß sich tief in die Bauchhöhle. Für einen Moment waren ihre Gesichter ganz nah bei einander. Dann trat die Waffe den Rückweg an. Mit zusammengebissenen Zähnen sank der Wächter auf die Knie, während Damián sich wieder Nummer Zwei zuwandte. Er hatte sein Schwert wieder und diesmal war er vorbereitet. Metall traf in surrenden Tanz auf Metall. Vor, zurück, vor. Ein Schnitt traf den Wächter in der Seite. Damián selbst wurde an der Schulter getroffen. Er war eingeschränkt mit den gefesselten Händen, also war es Zeit die Bedingungen auch für seinen Gegner zu verschlechtern. In einer plötzlichen Bewegung ließ er sich fallen und zog die Wache von den Beinen. Ein kurzes Ringen am Boden, in dem Damián den Mann am Hals erwischte. Gleichzeitig traf ein kräftiger Hieb mit der Klinge ihn im Gesicht und teilte seine Wahrnehmung in Hell und Dunkel. Blut vermischte sich mit Blut. Beherzt griff er nach seiner Waffe, um es zu beenden. Der Dolch des Anderen kam wie aus dem nichts. Ein kurzer, tiefer Stich in die Seite und alles um ihn herum wurde schwarz.
Blut. Zuviel Blut. Er sah es aus dem Augenwinkel und trotzdem setzte der Gedanke sich in seinem Kopf, fest bis kein Platz mehr für etwas anderes war. Er drehte sich in dem Moment zu ihnen um, als der Piratenjäger zu seinem letzten Schlag ausholte. Seine Welt explodierte in alles verzerrendem Zorn. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Keine Ahnung, wer die Menschen zu seinen Füßen getötet hatte. Sein Verstand arbeitete erst wieder, als er sich über Tess beugte. Ihr Atem ging unregelmäßig. Ihre weit geöffneten Augen starrten in den Himmel. Er griff nach ihrer Hand. „Kätzchen, bleib bei mir...“ Schweißgebadet schreckte er hoch. In dem kurzem Moment zwischen Schlafen und Wachen wusste er nicht, wo er war. Dann sah er die Papiere vor sich, die hölzernen Wände der Kajüte um sich und spürte das beruhigende Schaukeln des Meeres unter sich. Er war wieder über den Unterlagen eingenickt. Sein Blick wanderte durch den Raum in Richtung Bett und dem blonden Schopf zwischen den Laken. Er seufzte. Alles war gut.
Er trat ans Fenster und lauschte für einen Moment den Wellen. Die Träume wurden schlimmer, laugten ihn aus und stahlen ihm selbst bei Tag die Konzentration. Er kannte ihre Ursache und wusste, dass es galt eine Entscheidung zu treffen. Aber das war nicht besonders einfach.
Tess seufzte leise, als sie ihn neben sich spürte und drehte sich im Schaf. Vorsichtig tasteten sich seine Finger unter der Decke zu ihr. Ihr Atem ging ruhig und doch wirkte sie immer noch ziemlich blass. Die Verletzung war harmloser gewesen, als das, was seine Alpträumen daraus machten und doch schien sie sich nur schwer zu erholen. Als er sie in die Arme schloss, lächelte sie schläfrig. „Da bist du ja endlich...“ „'Tschuldigung, ich wollte dich nicht wecken.“ Ihr Lächeln wurde breiter, als sie sich an ihn kuschelte. „Schon in Ordnung.“ Er dachte schon, dass sie wieder eingeschlafen war, als sie plötzlich fragte: „Wann willst du mir eigentlich erzählen, was dich die ganze Zeit beschäftigt?“ Er löste die Umarmung und bemerkte, dass sie ihn mit ihren Katzenaugen beobachtete. Damián zuckte die Schultern. „Das übliche schätze ich... die Crew, Vorräte, Routen...“ Sie runzelte skeptisch die Stirn. „...Sorgen um dich...“ Er unterbrach sich. „Ich meine, du bist immer noch ziemlich schwach.“ Nun lächelte sie versonnen. „Ach das...“ Ihre Finger fanden den Weg in seine Haare und drehten sie zu einzelnen Strähnen zusammen. „Das hat nichts mit dieser blöden Wunde zu tun. Ich wollte eigentlich noch warten, bis ich mir ganz sicher bin, dass diese ganze Aufregung nicht alles verdorben hat... Aber das bin ich inzwischen eigentlich...“ Die Bewegung ihrer Hände stoppte für einen Moment, als sie seinen Blick fixierte. „Wir werden ein Kind bekommen.“ Für einen Moment starrte er sie nur an. In seinem Kopf sprangen die Gedanken wild schreiend durcheinander und überforderten ihn. Dann rief die Entscheidung, die schon so lange überfällig war, alle zur Ruhe. Als wäre die Antwort schon immer da gewesen, fügte sich plötzlich alles zu einem klaren Bild.
Über Tess' Gesicht huschte der Schatten einer alten Unsicherheit, als sie mit zusammengepressten Lippen auf seine Antwort wartete. Er lächelte und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie so innig, dass kein Zweifel an seiner Freude bestand. Als sie sich nach einer Ewigkeit voneinander lösten, flüsterte er: „Dann ist es an der Zeit, endlich etwas zu erledigen, was ich schon lange vor mir hergeschoben habe.“
Der Schmerz wuchs schnell von der Stelle, wo er gesät wurde, bis er in jeder Faser seines Körpers Wurzeln schlug. Doch sein Kopf kämpfte weiter. Kämpfte weiter um ihn an etwas Wichtiges zu erinnern. Es gab eine Zukunft, die auf ihn wartete. Damián umschloss fest den Griff seines Säbels und rollte sich zur Seite. Mit ein wenig Anstrengung schickte er ein Lächeln in seine Mundwinkel, als die Klinge über dem Hals des Anderen zum Stehen kam. „Ich fürchte, ich kann äußerst hartnäckig sein. Also hoffe ich, dass du einen verdammt guten Grund hast weiter zu kämpfen. Einen für den sich das Sterben lohnt. Denn ich hab unzählige gute Gründe am Leben zu bleiben. Solltest du allerdings auch lieber leben und dabei noch ein Held werden wollen, habe ich ein Angebot für dich.“
„Er hat dich getötet?“ Najah zog das Wort merklich in die Länge, während sie ihm die Wunden in einem Hinterzimmer des Freudenhauses versorgte. „So wird er es erzählen. Hat mich in der Nähe der Schiffe erwischt, als ich aus der Stadt flüchten wollte. Wir haben gekämpft, aber am Ende war er siegreich. Leider nur mit einem Haken – sie werden meine Leiche aus dem Hafenbecken fischen müssen und ich fürchte, die hungrigen Fische werden eine Identifizierung sehr schwer machen...“ „Alles eingeplant“, stellte sie sachlich fest. Damián verzog die Gesichtshälfte, die nicht schmerzte zu einem Grinsen. „Nun ja, ich wollte heute einen Schussstrich ziehen, aber ich gebe zu, die Details gehörten eher zu meinen spontaneren Ideen. Und wenn ich bedenke, dass ich sie nicht eingeweiht habe, wird mich Tess sicher dafür umbringen.“ „Wird sie das?“ Es war ein besonderes Talent, dass sie es schaffte im ungünstigsten Moment in das kleine konspirative Treffen hereinzuplatzen. „Hey Kätzchen“, intonierte er unsicher. Tess baute sich bedrohlich vor ihm auf, fast wie sein Henker ein paar Stunden zuvor. Najahs Menschenkenntnis war gut genug, dass sie schleunigst die Flucht ergriff. „Und warum genau sollte dich umbringen wollen? Etwa, weil ich diese Sache im Gasthaus mit der kleinen Schlampe ganz allein regeln musste? Oder weil ich eine Stunde lang geglaubt hab', ich hätte dich für immer verloren? Weil ich wegen diesem bescheuerten Plan, den du mit Caradeč ausgeheckt hast ohnehin seit Tagen mit dem Schlimmsten rechnen musste, oder einfach nur, weil ich dir bei dem Ganzen nicht mal helfen durfte?“ Lächelnd unterbrach er sie. „Ich bin mir sicher, dir fallen noch weitere Dinge für diese wunderbare Liste ein. Zu meinem Glück wirst du mir alles verzeihen, weil du froh bist, dass du auch weiterhin nicht auf meine wunderbare Gesellschaft verzichten musst.“ Tess' Lippen blieben schmal. „Lass das. Ich hab mir wirklich verdammte Sorgen um dich gemacht...“, die Worte erstarben in ihrem Mund. Er zog sie zu sich und schloss sie in seine Arme. Die Geste erzählte die Wahrheit darüber, was seine saloppen Worte versucht hatten zu überspielen. Es war die Geschichte von der eigenen Anspannung, die der Erleichterung wich. Es war die Geschichte davon, wie er sich nach ihr gesehnt hatte und tausend Dinge mehr. Nach einer Weile flüsterte er „Versprochen ist Versprochen.“ Sie schnaubte leise. „Das sagst du jedes Mal.“ „Und jedes Mal halte ich dieses Versprechen.“ Nun endlich schlich sich ein kleines Lächeln über ihr Gesicht. Vorsichtig glitten seine Finger über die Wölbung ihres Bauches. „Und du weißt, dass ich eine guten Grund hatte, dich von diesem bescheuerten Plan fern zu halten. Selbst wenn ich dafür extra einen Auftrag annehmen musste, um dich zu beschäftigen. Wie ist es übrigens gelaufen?“ Zur Antwort zog sie eine Handvoll Papiere aus ihrem Mantel. „War ein Kinderspiel mit der Wegbeschreibung. Arisa wird zufrieden sein. Und bei dir ist es wohl auch ganz gut gelaufenen? Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Und der Gouverneur sah aus, als würde er am liebsten sofort zurücktreten, als sie ihn den Weg zu seinem Haus freigekämpft hatten...“ Er lächelte zufrieden und stöhnte, als der Schmerz dabei zurück kam. Zögerlich griff Tess nach dem Tuch, dass sein halbes Gesicht bedeckte und zog es nach oben. Kritisch fuhr sie an der Wunde entlang. „Das wird eine Narbe.“ Er zuckte mit den Schultern. „Setz sie auf die Liste.“ „Du weißt, dass es auch alles einfacher funktioniert hätte.“ Er nickte. Natürlich wäre alles auch einfacher gegangen, dachte er, als er sie wieder an sich zog. Man hätte den Gouverneur einfach ermorden können. Doch er hatte die Möglichkeit genutzt, ihnen eine Zukunft zu schaffen. Verfolger abzuschütteln. Er war ein toter Pirat, ja. Aber dafür war er lebendig für alles andere, was da noch kam.
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